TIEFE ABGRÜNDE AUF ELBA - Leseprobe
Kapitel 1:
Porto Azzurro, das kleine Hafenstädtchen im Osten der Insel Elba, machte seinem Namen wieder einmal alle Ehre. Über dem dunkelblauen Wasser im Hafenbecken strahlte die Sonne vom wolkenlosen, azurblauen Himmel. Auf der an den Hafen angrenzenden Piazza Giacomo Matteotti tobten einige Kinder, spielten Fangen oder warfen einen leuchtend roten Ball hin und her, während ihre Eltern ringsherum in den Bars und Cafés saßen, sich den morgendlichen Cappuccino schmecken ließen, in der Sonntagszeitung blätterten oder übers Display ihrer Smartphones wischten. Die Glocken der Chiesa Parrocchiale San Giacomo riefen die Gläubigen zum Sonntagsgottesdienst in die Kirche, die in der kleinen Via D’Alarcon in unmittelbarer Nähe zur Piazza Matteotti lag. An der Mole, die sich von der Banchina 4. Novembre im rechten Winkel ins Hafenbecken erstreckte, war an diesem Sonntagmorgen kein Platz mehr frei. Im Laufe des Samstags hatte dort nach und nach eine private Yacht nach der anderen festgemacht, bereits am frühen Samstagnachmittag waren alle Anlegeplätze belegt. Noch vor einigen Jahren hatten an dieser langen Mole die Autofähren aus Piombino angelegt und Porto Azzurro besonders zur Hochsaison tagtäglich fast im Verkehr ersticken lassen. Seit die Fähren nur noch die Inselhauptstadt Portoferraio sowie das nördlich gelegene, kleine Rio Marina ansteuerten, war es in Porto Azzurro viel ruhiger geworden.
Elia Tocchi hatte mit seinem Ausflugsschiff Perla di Venere auf Höhe der Piazza Matteotti angelegt. Benannt war die ‚Perle der Venus‘ nach der Legende, dass Venus, die römische Göttin der Liebe, ihre Perlenkette verloren hatte, als sie dem Tyrrhenischen Meer entstiegen war und die einzelnen herabfallenden Perlen zu den Inseln des toskanischen Archipels geworden waren. Elba war nicht nur die größte Insel des Archipels, sondern nach Sizilien und Sardinien sogar die drittgrößte Insel Italiens. Die fast einhundertfünfzig Kilometer lange Küste bot unzählige Möglichkeiten zum Baden, Tauchen, allen Arten von Wassersport und eben auch für Ausflüge mit dem Schiff, damit sich die Touristen die Küste auch vom Wasser aus ansehen konnten.
Am Anlegeplatz der Perla di Venere hatte Elia Tocchi ein großes Schild aufgestellt, auf dem die täglichen Abfahrtszeiten und die Fahrpreise zu lesen waren sowie ein Kartenausschnitt von Elba angebracht war, anhand dessen die Ausflugsroute von Porto Azzurro entlang der Küste der Halbinsel Calamita bis zu deren südlichem Ende, an dem die Costa dei Gabbiani, die Küste der Möwen, liegt, beschrieben wurde. Schon seit mehr als zwanzig Jahren verdiente Tocchi im Sommer mit seinem Schiff den Lebensunterhalt für sich und seine Familie. Von klein auf war sein Sohn Davide am Wochenende oder in den Schulferien oft mit an Bord, weil es für ihn nichts Schöneres gab, als mit seinem Papa aufs Meer hinauszufahren. Mittlerweile war Davide neunzehn, machte eine Lehre als Schiffsbauer, hatte selbst schon einen Bootsführerschein und übernahm deshalb am Wochenende oft das Steuer, damit sich sein Vater noch mehr um seine Fahrgäste kümmern konnte. In der Hochsaison blieb auf der Perla di Venere kaum einmal ein Platz leer. Für den Sonntagvormittag hatte Tocchi bereits am Samstagabend alle zehn Tickets verkaufen können und für die Tour am Sonntagnachmittag waren auch nur noch vier Plätze frei. Alle Touristen, die am Anlegeplatz vorbeikamen, sprach er an, ob sie nicht Interesse an einem Ausflug mit dem Schiff hätten.
„Die Costa dei Gabbiani gehört zu einem Nationalpark, dem Parco Nazionale dell‘Arcipelago Toscano“, erklärte er einem Pärchen, das von der Piazza Matteotti kommend an seiner Werbetafel stehen geblieben war. „Große Teile der unberührten Natur sind nur vom Meer aus zu sehen, auch einige kleine Strände sind nur zu Fuß oder mit dem Boot zu erreichen. Bei unserer dreistündigen Tour ist ausreichend Zeit mit eingeplant, dass Sie, wenn Sie wollen, auch einmal ins glasklare Wasser springen können.“
Die beiden italienischen Touristen nickten sich zwar zu, wollten sich aber nicht sofort auf einen bestimmten Termin festlegen.
„Wir sind erst gestern Nachmittag auf der Insel angekommen und wollen uns erst einmal hier in Porto Azzurro und der näheren Umgebung ein bisschen umsehen und die Nachmittage am Strand verbringen. Aber im Laufe der nächsten Woche werden wir an einem der Vormittage sicher einmal mit ihnen mitfahren.“
„Ich bin in der Regel am Abend auch immer hier am Anleger“, antwortete Elia Tocchi. „Wenn Sie wissen, an welchem Vormittag Sie den Ausflug mitmachen wollen, ist es empfehlenswert, sich die Tickets möglichst rechtzeitig zu sichern.“
In der Zwischenzeit waren alle Touristen, die die aktuelle Tour gebucht hatten, eingetroffen. Während Davide noch auf der Hafenmauer stand, war Elia Tocchi bereits an Bord, gab jedem seiner Fahrgäste die Hand, half ihm damit sicher über die Reling aufs Schiff zu steigen und riss anschließend von den Fahrkarten jeweils eine Ecke ab. Als alle sechs Erwachsenen und vier Kinder an Bord waren, löste Davide die dicken Taue, mit denen die Perla di Venere an der Hafenmauer festgebunden war und sprang auch an Bord.
„Herzlich Willkommen zu unserem Ausflug zur Costa dei Gabbiani. Mein Name ist Elia Tocchi, am Steuer unseres Schiffes ist mein Sohn Davide. Vielen Dank, dass wir Ihnen heute einen Teil unserer schönen Insel zeigen dürfen.“
Davide war bereits in der verglasten Kabine des Schiffes und warf den Motor an, während sich die Fahrgäste vor der Kabine links und rechts entlang der Reling auf die Holzbänke setzten. Elia Tocchi stellte sich seitlich vor die Kabine, damit er seinem Sohn die Sicht nicht versperrte. Davide fuhr langsam aus dem Hafenbecken hinaus, während sein Vater mit lauter Stimme versuchte, das Brummen des Schiffsmotors zu übertönen.
„Auf der linken Seite, auf dem Hügel, der den ganzen Ort überragt, sehen sie die Festungsanlage Forte San Giacomo, benannt nach der Kirche im Inneren der Anlage, der Chiesa di San Giacomo Maggiore. Die Festung wurde im siebzehnten Jahrhundert, während der Zeit der spanischen Herrschaft über die Insel, als Verteidigungsanlage erbaut. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts verlor sie ihre strategische Bedeutung, wurde umgebaut und ist seitdem ein Gefängnis, das lange als eines der schlimmsten Gefängnisse Italiens galt. Nach dem alten Namen von Porto Azzurro, nämlich Porto Longone, wird die Festung oft auch Forte Longone genannt. Im italienischen Sprachgebrauch hatte der Ausdruck ‚einen Besuch in Porto Longone machen‘ die Bedeutung von ‚in den Knast wandern‘, deswegen waren es die Einwohner irgendwann leid, dass ihr Ort immer mit dem Gefängnis gleichgesetzt wurde, deshalb wurde Porto Longone 1947 in Porto Azzurro umbenannt.“
Die Touristen an Bord zückten ihre Handys und fotografierten die Festung, während Davide das Schiff in Richtung Südosten steuerte.
„Wenn Sie sich nach rechts umdrehen“, fuhr Elia Tocchi mit seinen Erklärungen fort, „dann sehen Sie in die Baia di Mola hinein, eine große Bucht mit einer für das ganze toskanische Archipel wichtigen Werftanlage. Danach können Sie anhand der vielen bunten Sonnenschirme und Strandliegen die schöne Spiaggia di Naregno sehen, gefolgt von der auf dem steilen Felsen stehenden Festung Forte Focardo, die ebenfalls von den Spaniern im siebzehnten Jahrhundert erbaut worden ist und die zusammen mit dem Forte San Giacomo auf der anderen Seite der Bucht die Verteidigung gegen Angriffe vom Meer her sicherstellen sollte. Die Festung kann wie das Gefängnis leider auch nicht besichtigt werden, weil sie im Eigentum der Marine ist.“
Nach der Festung war die Küste ein Wechselspiel zwischen ins Meer ragenden Felsen und kleineren Strandabschnitten, die an diesem sonnigen und heißen Juni-Sonntag bereits am Vormittag gut besucht waren. Für die Fahrgäste an Bord war es bisher eine sehr gemütliche Ausflugsfahrt, da das Meer sehr ruhig war und der Fahrtwind für einen angenehmen, kühlenden Luftzug sorgte.
„Die Halbinsel Calamita, an der wir entlangfahren, ist für ihre reichhaltigen Eisenerz- und Mineralienvorkommen berühmt. Die Hälfte der weltweit am häufigsten vorkommenden Mineralienarten sind auf Elba zu finden. Bereits im achten Jahrhundert vor Christus haben die Etrusker hier Eisenerz abgebaut, das zur Weiterverarbeitung damals hauptsächlich nach Populonia, dem heutigen Piombino, gebracht wurde. Später standen die Hochöfen auf der Insel selbst, vorwiegend rund um Portoferraio, der Ort trägt nicht umsonst den Namen ‚Eisenhafen‘. Während des zweiten Weltkrieges wurde nur noch für die Rüstung Eisen produziert, deshalb waren die Hochöfen von Portoferraio auch das Ziel vieler Bombardierungen durch die Alliierten, bis im Juli 1943 ein Waffenstillstand zwischen Italien und den Alliierten geschlossen wurde.“
Einer der Fahrgäste drehte sich zu Elia Tocchi um.
„Wird denn heute immer noch Eisenerz abgebaut?“
„Nein, Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts waren die Minen nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben, deswegen wurden sie nach und nach geschlossen. Wir kommen übrigens gleich an der Punta Nera vorbei, einem Felsvorsprung, benannt nach den schwarz gefärbten Steinen, die dort ins Meer ragen. Ein kleines Stück weiter südlich sehen wir dann die Spiaggia Miniera dei Sassi Neri, den Minenstrand der schwarzen Steine. Oberhalb des Strandes liegt die ehemalige Mine Sassi Neri, in der nur in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Magnetit abgebaut wurde. Das Mineralvorkommen dort wurde nur auf circa zweihunderttausend Tonnen geschätzt. Nach Ende des Abbaus wurde ein Bergwerksschacht mit Wasser gefüllt, dadurch entstand ein kleiner, zehn Meter tiefer See, der Laghetto di Sassi Neri, der aber vom Meer aus nicht zu sehen ist, da zwischen ihm und dem Strand ein Hügel liegt. Das gesamte Abbaugebiet rund um den See ist heute mehr oder weniger von Macchia überwachsen, so dass von der ehemaligen Mine praktisch nichts mehr zu erkennen ist. Erst ein Stück weiter südlich werden Sie dann anhand der alten, verrosteten Förderanlagen sehen, wo das größte Eisenerz-Abbaugebiet auf der Halbinsel Calamita war.“
Während er von der Mine Sassi Neri erzählt hatte, war Elia Tocchi zum Bug seines Schiffes nach vorne gegangen und hatte sich zu seinen Fahrgästen umgedreht.
„Habt ihr alle eure Badesachen dabei?“, fragte er die vier Kinder und alle nickten zustimmend.
Nachdem sie die Punta Nera passiert hatten, Tocchi in Fahrtrichtung schaute und sie in Sichtweite der Spiaggia Miniera dei Sassi Neri kamen, drehte er sich abrupt um, gab Davide ein Zeichen, das Tempo zu drosseln und machte ein paar schnelle Schritte zur Schiffskabine, um sich dort sein Fernglas zu holen. Die Urlauber an Bord sahen sich fragend an, weil keiner wusste, was Elia Tocchi entdeckt hatte und sie selbst von ihren Plätzen aus nichts Ungewöhnliches feststellen konnten. Davide hatte inzwischen die Geschwindigkeit soweit reduziert, so dass das Schiff nur noch langsam über das Wasser glitt. Sein Vater suchte mit Hilfe des Fernglases die Wasseroberfläche ab, bis er ganz deutlich sah, was er mit bloßem Auge schon vermutet hatte. Etwa einhundertfünfzig bis zweihundert Meter vom Strand entfernt schwamm ein Ölteppich auf dem Meer, in den schon einige Möwen hineingeraten waren und jetzt mit ölverschmiertem Gefieder am Ufer saßen. Tocchi rief seinem Sohn zu, den Motor abzustellen, während er selbst bereits sein Smartphone in der Hand hatte und eine eingespeicherte Nummer wählte.
„Ciao Elia“, begrüßte ihn sein Bruder Ludovico am anderen Ende der Leitung. „Alles klar bei dir?“
Nun hörten endlich auch alle Fährgäste, was Elia Tocchi entdeckt hatte.
„Ciao Ludovico, bei mir persönlich passt alles, aber in der Nähe der Spiaggia Miniera dei Sassi Neri treibt ein Ölteppich auf dem Wasser, ungefähr zweihundert Meter vom Ufer entfernt. Ein paar Möwen hat es leider schon erwischt.“
Ludovico Tocchi war zwei Jahre jünger als sein Bruder, arbeitete bei der Küstenwache und war schon seit mehr als zehn Jahren in Porto Azzurro stationiert.
„Danke für den Hinweis, Elia. Ich habe zwar heute frei, werde aber gleich die beiden diensthabenden Kollegen der Guardia Costiera alarmieren, damit sie hinausfahren und sich das ganze einmal näher ansehen.“
„Sag ihnen, sie sollen genügend Material für eine Ölsperre mitnehmen, es ist schon ziemlich viel Öl, das da schwimmt.“
„Kannst du irgendeine Ursache ausmachen?“
„Nein, Ludovico, hier ist gerade kein anderes Boot unterwegs, ich habe auch keines wegfahren gesehen.“
„Bleibst du noch solange an der Stelle, bis meine Kollegen da sind?“
„Das geht leider nicht, wir müssen unsere Fahrt fortsetzen, sonst komme ich für die Nachmittagstour zu spät zum Hafen zurück. Ich lasse Davide aber ein bisschen näher an den Ölteppich hinfahren, dann schicke ich dir die Koordinaten aufs Handy, bevor wir weiter in Richtung Costa dei Gabbiani fahren.“
Sie verabschiedeten sich voneinander und beendeten das Gespräch.
Der Urlauber, der auf der rechten Seite ganz vorne saß, wollte von Tocchi gleich wissen, was er sich als mögliche Ursache vorstellen könnte.
„Es ist schwer zu sagen, ob hier jemand aus Versehen eine Menge Öl ins Meer fließen ließ oder ob ein vorsätzlicher Umweltsünder am Werk war. Unabhängig davon muss hier natürlich schnell gehandelt werden, damit sich der Ölfilm auf dem Wasser nicht noch weiter ausbreitet und nicht noch mehr Tiere in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Küstenwache ist alarmiert und wird sich unverzüglich darum kümmern.“
Er schickte Davide, der mittlerweile neben ihm stand, in die Kabine zurück und bat ihn, langsam weiterzufahren, bis er ihm wieder ein Zeichen zum Stoppen geben würde. Die Perla di Venere erzitterte wieder, als der Motor angeworfen wurde. Davide gab einmal kräftig Gas und ließ das Schiff dann in Richtung Ölteppich gleiten. Bald konnten auch die Urlauber das im Sonnenlicht in allen möglichen Farben schimmernde Öl erkennen und einige versuchten auch, es zu fotografieren.
„Halt an, Davide, ich denke wir sind jetzt nah genug dran“, rief Elia Tocchi und sein Sohn stoppte das Schiff mit einem kurzen Gas-Stoß im Rückwärtsgang. „Unsere erste Badepause muss leider noch ein bisschen warten, hier kann jetzt natürlich niemand ins Wasser“, sagte er insbesondere an die Kinder gewandt, als er zur Kabine ging, um dort die Anzeige mit den genauen Koordinaten ihrer aktuellen Position zu fotografieren und das Foto sofort an seinen Bruder zu schicken.
Davide drehte die Perla di Venere etwas vom Öl weg, gab langsam Gas, steigerte die Geschwindigkeit immer mehr und setzte nach der unfreiwilligen Pause die Fahrt in Richtung Süden fort. Die nächste größere Felsformation, die sie passierten, wurde Capo Calvo genannt, danach kündigte Elia Tocchi lautstark den baldigen ersten Stopp zum Baden an.
„Südlich der sehr hellen Felsen der Punta Bianca folgt die Spiaggia del Ginepro, ein Strand, hinter dem beliebte Kletterwände liegen. In Sichtweite zum Strand werden wir anhalten, damit sie alle einmal ins Wasser springen können.“
„Wie sollen wir danach wieder aufs Schiff zurückkommen?“, fragte ein kleiner Junge etwas ängstlich und an den Gesichtern der anderen Ausflügler war abzulesen, dass sich der eine oder andere schon die gleiche Frage gestellt hatte.
„Das ist kein Problem“, erwiderte Tocchi. „Wir haben eine Leiter dabei, die wir außen an der Reling einhängen und die bis hinunter ins Wasser reicht. So kann jeder ganz einfach wieder aufs Schiff klettern.“
Damit war der kleine Junge, der Matteo hieß, beruhigt und freute sich sichtlich auf den Sprung ins Meer. Auf Höhe der Punta Bianca drosselte Davide das Tempo und steuerte die Perla di Venere etwas näher Richtung Küste. Die Spiaggia del Ginepro war an diesem Vormittag noch leer, auch an den dahinterliegenden Kletterfelsen war niemand zu sehen. Davide wusste, wie nahe er dem Ufer kommen durfte, ohne die Gefahr, auf Grund zu laufen. Als er den Motor stoppte, war das für die Urlauber das Zeichen, dass sie sich zum Baden fertigmachen konnten, die meisten mussten ohnehin nur ihre T-Shirts und die kurzen Hosen ausziehen. Als erster stieg Matteo auf die Reling und sprang mit einem lauten, fröhlichen Schrei hinunter ins glasklare Wasser. Sein Vater hechte ihm sofort hinterher, schwamm einige Züge unter Wasser, tauchte wieder auf und drehte sich zum Schiff um.
„Du musst unbedingt auch reinspringen, Nina, das Wasser ist herrlich.“
Seine Frau, die offenbar noch unentschlossen gewesen war, ob sie auch ins Wasser gehen sollte, streifte ihrer Tochter noch die Schwimmflügel auf die Oberarme, dann zog auch sie ihr Top und ihren Minirock aus. Ihre Tochter zögerte einen Augenblick, als sie auf der Reling stand, ob sie wirklich hinunterspringen sollte. Erst als sich ihre Mama neben sie auf die Reling setzte, hielt sie sich die Nase zu und wagte den Sprung ins erfrischende Nass, gefolgt von ihrer Mama, die sofort neben ihr im Wasser war. Auch die anderen Urlauber sprangen nach und nach über Bord, sodass Elia und sein Sohn schnell alleine waren. Davide befestigte die von seinem Vater erwähnte Leiter außen an der Reling, während Elia am Handy die Nachricht von seinem Bruder las, dass die Guardia Costiera bereits zur Spiaggia Miniera dei Sassi Neri unterwegs war.
„So einen großen Ölteppich habe ich hier noch nie gesehen“, sagte er zu Davide, nachdem er ihm die WhatsApp-Nachricht laut vorgelesen hatte. „Vorhin habe ich mich zurückgehalten, weil ich vor unseren Fahrgästen nicht unnötig spekulieren wollte, aber ich bin mir relativ sicher, dass diese Verschmutzung nicht zufällig passiert ist.“
„Meinst du, dass da jemand den Tank von seiner Yacht oder seinem Boot reinigen wollte? Dafür war mir der Ölteppich fast zu groß. Könnte es nicht sein, dass bei einem Boot der Tank einfach leck geschlagen ist und deshalb der ganze Treibstoff ausgelaufen ist?“
„Theoretisch schon, aber mit einem defekten Tank wäre das Boot doch wahrscheinlich nicht mehr alleine von dort weggekommen. Bei der Guardia Costiera ist aber offenbar kein Notruf eingegangen, sonst hätte Ludovico das bestimmt erwähnt.“
„Was ist deiner Meinung nach dann passiert?“
„Ich befürchte eher, dass da einer ein Fass mit altem Öl illegal entsorgen wollte und im Meer versenkt hat. Das könnte natürlich schon einige Zeit her sein, vielleicht ist das Fass über einen längeren Zeitraum vor sich hin gerostet und ist jetzt undicht geworden.“
„Dann dürfte es aber schwierig werden, den Verursacher noch ausfindig zu machen“, stellte Davide fest.
Sein Vater erwiderte darauf nichts mehr, weil eine der Urlauberinnen bereits wieder an Bord kletterte und sich zum Trocknen in die Sonne setzte. Das war offenbar für alle anderen ein Zeichen, auch zum Schiff zurück zu schwimmen und aus dem Wasser zu steigen. Am längsten tummelten sich die vier Kinder im Meer, erst als sie von ihren Eltern aufgefordert wurden, an Bord zu kommen, kletterten sie widerwillig die Leiter nach oben.
„Ihr habt später noch einmal die Gelegenheit, ins Wasser zu springen“, versprach ihnen Elia Tocchi, als sich die vier beschwerten, dass das Baden im Meer viel zu kurz ausgefallen war.
Während sich die Kinder abtrockneten, war Davide wieder losgefahren und steuerte die Perla di Venere weiter in Richtung Süden. Die schnelle Fahrt dauerte nicht lange, denn schon bald waren hinter dem Capo delle Brache die alten, verrosteten Förder- und Transportanlagen der Mine Ginevro zu sehen. Davide ging so weit vom Gas, dass das Schiff nur noch sehr langsam weiterfuhr und das Surren des Motors von Elia leicht übertönt werden konnte.
„Die Mine Ginevro war zwar nur zehn Jahre, von 1971 bis 1981 in Betrieb, war allerdings die größte und produktivste Magnetit-Mine Europas. Während in den anderen Minen auf Elba das Eisenerz überwiegend oberirdisch abgebaut wurde, waren hier Stollen vorhanden, die bis zu vierundfünfzig Meter unter dem Meeresspiegel lagen. Man vermutet, dass die Eisenerz-Vorkommen bis circa zweihundertfünfzig Meter Tiefe reichen.“
Die Urlauber schossen wieder viele Fotos und Matteos Vater wollte von Elia wissen, ob man die Mine auch näher besichtigen könne.
„Ja, in der Galleria del Ginevro gibt es Führungen, die bis in vierundzwanzig Meter Tiefe reichen. Jeder bekommt natürlich einen Helm und die Tour-Führer erklären die Geschichte der Mine und die verschiedenen Abbau-Methoden. Wie ich bereits erwähnt habe, ist die Mine seit mehr als vierzig Jahren stillgelegt. Allerdings wurde damals nur ungefähr ein Drittel des Eisenerz-Vorkommens abgebaut, deswegen sieht der italienische Staat sie immer noch als strategische Reserve an, deren Förderung im Notfall wieder hochgefahren werden könnte.“
„Dort werden wir mit den Kindern bestimmt einmal hinfahren“, erwiderte Matteos Vater. „Wie wurde das Eisenerz von hier weggebracht?“
„Sie sehen dort oben noch die langen Gestelle und Schienen der alten Förderbänder. Damit wurde es in verschiedene Waschanlagen und zur Weiterverarbeitung transportiert. Am Ende der Verarbeitung hier vor Ort wurde es entweder mit Lastwägen auf dem Landweg hauptsächlich nach Portoferraio gefahren oder auf dem Seeweg mit Lastschiffen von der Insel gebracht.“
Nachdem von den Urlaubern keine weiteren Fragen mehr kamen, beschleunigte Davide das Schiff wieder und fuhr weiter die Küste entlang, bis ihm sein Vater mit ein paar Handbewegungen zu verstehen gab, dass für die Touristen die nächste Besichtigung anstand. Rund um die Grotta delle Capre zeigten sich gerade viele Ziegen, die der Grotte ihren Namen gaben. Die Tiere lebten hier in freier Wildbahn. Besonders für die Kinder war es sehr interessant zu sehen, wie sich die Ziegen in den zum Teil sehr steilen Felswänden bewegten ohne abzustürzen. Offenbar waren sie es auch gewohnt, vom Wasser aus beobachtet zu werden, den nicht einmal das Dröhnen von Schiffsmotoren schien sie zu stören.
„Wir erreichen gleich den südlichsten Punkt der Halbinsel Calamita“, erzählte Elia, als Davide das Schiff wieder etwas beschleunigt hatte. „Das ganze Gebiet hier wird Costa dei Gabbiani genannt, ein viertausend Hektar großes Naturschutzgebiet mit vielen kleinen Buchten, das seinen Namen von den Silbermöwen hat, die hier in den Felsnischen ihre Nester bauen und ihren Nachwuchs aufziehen. Vermutlich handelt es sich hierbei um die größte Silbermöwenkolonie am Tyrrhenischen Meer.“
Wie auf Kommando umkreisten plötzlich mehrere Möwen das Schiff und stießen dabei ihre typischen Schreie aus. Offenbar wussten sie ganz genau, dass bei einem Schiff auch etwas Nahrung für sie abfallen würde. Elia tat ihnen den Gefallen und holte aus der Schiffskabine eine Papiertüte mit altem Brot, das bereits in kleine Stücke geschnitten war. Als eine Möwe fast direkt über ihm war, warf er ein Brotstück im hohen Bogen über Bord. Im Sturzflug schoss die Möwe nach unten und schnappte sich das Brot, bevor es ins Meer fallen konnte. Zwei weitere Möwen passten ihr Fluggeschwindigkeit dem Tempo des Schiffes an, so dass sie in der Luft zu stehen schienen und für die Urlauber an Bord fast zum Greifen nahe waren. Elia ließ die Tüte mit dem alten Brot herumgehen, besonders die Kinder hatten einen Heidenspaß, den Möwen die Brotstücke zuzuwerfen und ihnen zuzuschauen, wie sie die meisten Stücke im Flug mit dem Schnabel auffangen konnten.
Nachdem sie die Südspitze der Halbinsel, die Punta di Balamorta, umkurvt hatte, kamen sie in eine weitläufige, breite Bucht, an der drei wunderschöne Strandabschnitte lagen. Dort war für die Perla di Venere jeweils der Wendepunkt der Tour, wo den Urlaubern an Bord noch einmal die Gelegenheit gegeben wurde, ins glasklare warme Wasser zu springen, bevor die Fahrt zurück nach Porto Azzurro ging. Als Davide in die Bucht hineinsteuerte, war sofort der Scoglio Remaiolo zu sehen, ein riesiger Felsbrocken, der dort aus dem Meer ragt. Im Süden des Felsens lag ein größeres Schiff vor Anker, auf dem allerdings nur eine Person zu sehen war. Die einfache Erklärung dafür lieferte Elia sogleich.
„Das Schiff gehört einer Tauchschule, der Scoglio Remaiolo ist nämlich einer der beliebtesten Tauchplätze von Elba. Auf der Ostseite des Felsen, also in Richtung der Küste, kann man bis zu zwanzig Meter in die Tiefe gehen und dort einige Höhlen finden. Im Süden sind eher erfahrenere Taucher unterwegs, dort geht es sehr steil bis auf siebenundfünfzig Meter Tiefe hinunter.“
Davide ließ den Felsen rechts liegen und fuhr geradewegs auf die Spiaggia di Vetrangoli zu. An dem bewirtschafteten Strand waren schon von weitem die roten Sonnenschirme zu sehen, viele Strandliegen waren um diese Zeit auch schon belegt. Während Davide das Tempo drosselte und langsam weiter auf den Strand zufuhr, deutete Elia nach links hinüber.
„Der große Felsvorsprung am Ende der Spiaggia di Vetrangoli wird Punta Rossa genannt, dahinter liegt der größte Strand hier an der Südspitze der Halbinsel, die Spiaggia di Cannello, und rechts vorne sehen Sie die kleine, wunderschöne Spiaggia di Remaiolo.“
Elia hätte noch etwas mehr zu erzählen gehabt, merkte aber, dass die Urlauber nun kein Ohr dafür hatten. Sie warteten nur darauf, dass Davide den Motor stoppte, schon sprang einer nach dem anderen wieder in das glasklare Wasser. Matteos Vater, der offenbar ein sehr guter Schwimmer war, kraulte sogar bis zum Strand, wo er kurz aus dem Wasser ging und seiner Familie zuwinkte. Elia wartete solange wie möglich, bis er mit einer kleinen Glocke das Zeichen dafür gab, nun schön langsam zum Schiff zurück zu schwimmen. Als alle die Leiter wieder nach oben geklettert waren, wendete Davide die Perla di Venere, gab ordentlich Gas und fuhr auf dem Weg, den sie gekommen waren, in Richtung Porto Azzurro zurück. Bei der Grotta delle Capre hielt sich gerade ein anderes Ausflugsschiff auf und auch die alten Förderanlagen der Mine Ginevro wurden von Touristen von einem Schiff aus besichtigt. Nach den vielen Eindrücken der Hinfahrt konnten Elias Fahrgäste die Höhepunkte ihrer Tour noch einmal sehen, sie genossen den warmen Fahrtwind, der ihre vom Baden noch nassen Haare schnell wieder trocknete. Einige ließen sich die mitgebrachte Brotzeit schmecken, während andere sich darüber unterhielten, wo sie nach der Rückkehr in Porto Azzurro zum Mittagessen gehen könnten. Davide verminderte die Geschwindigkeit des Schiffes erst wieder, als in der Nähe der Spiaggia Miniera dei Sassi Neri das Boot der Guardia Costiera immer deutlicher zu sehen war. Die Kollegen von seinem Patenonkel Ludovico waren immer noch damit beschäftigt, von einem kleinen Beiboot aus auf dem Wasser eine Ölsperre einzurichten. Elia holte sich wieder sein Fernglas aus der Schiffskabine und konnte damit bald erkennen, welche Kollegen von seinem Bruder rund um den Ölteppich tätig waren, da er die meisten sehr gut kannte.
„Alessio und Carlo sind fast fertig, die Ölsperre rings um den Ölteppich zu schließen“, rief er Davide zu, der das Tempo weiter reduzierte und die Perla di Venere das letzte Stück bis in die Nähe des Beibootes der Küstenwache treiben ließ.
Alessio und Carlo hatten längst erkannt, wessen Schiff sich ihnen näherte. Bald waren sie in Rufweite und Alessio bedankte sich bei Elia, dass er Ludovico sofort informiert hatte, nachdem er auf das Öl im Meer aufmerksam geworden war.
„Das ist doch selbstverständlich. Habt ihr schon eine Ursache feststellen können?“
„Nein, wir wollten nur so schnell wie möglich die Sperre errichten. Alles weitere werden wir dann untersuchen.“
Mittlerweile trieb die Perla di Venere direkt neben dem Beiboot, so dass Alessio nicht mehr schreien musste.
„In Piombino gibt es eine Spezialfirma fürs Ölabsaugen, aber da habe ich noch niemanden erreicht, die genießen bestimmt alle den Sonntagnachmittag am Meer. Deswegen wird von denen vermutlich erst morgen im Laufe des Tages jemand hier aufkreuzen, um das Öl abzusaugen. Auf deren Analyse werden wir wohl angewiesen sein, um nachvollziehen zu können, woher das Öl stammt.“
„Ich halte natürlich auch die Augen offen, wenn ich hier viermal am Tag vorbeikomme, denn falls das kein Unfall, sondern Absicht war, muss dem Übeltäter so schnell wie möglich das Handwerk gelegt werden, bevor er weiter sein Unwesen treibt und noch mehr Schaden für die Umwelt anrichtet.“
Elia gab Davide ein Zeichen, dass er die Fahrt fortsetzen solle. Als sie wenig später den Hafen von Porto Azzurro erreichten, bedankten sich alle bei Elia und Davide für die interessante Tour und die vielen spannenden Infos, mit denen sie die Urlauber unterhalten hatten.
„Vielen Dank, dass Sie heute unsere Gäste waren. Wir würden uns freuen, Sie vielleicht wieder einmal an Bord begrüßen zu dürfen und wünschen Ihnen noch schöne Urlaubstage auf Elba.“
Sobald Davide an der Hafenmauer angelegt hatte, sprang Elia hinüber und befestigte sein Schiff wieder mit den dicken Tauen. Anschließend half er allen Urlaubern, sicher auf den festen Boden der Insel hinüberzusteigen. Einige wollten noch ein Foto mit ihm und dem Schiff schießen, dafür stellte er sich gerne zur Verfügung und auch Davide gesellte sich bei einigen Fotos noch dazu. Danach verteilten sich die Urlauber schnell in alle Richtungen.
Elia und Davide blieben bei der Perla di Venere, weil bis zur Abfahrt der Nachmittagstour nur noch eine knappe dreiviertel Stunde Zeit war. Das war ihnen einerseits zu kurz, um in ein Ristorante zum Mittagessen zu gehen, andererseits wollten sie auch vor Ort bleiben, um die restlichen vier Fahrkarten für den Nachmittag noch möglichst schnell verkaufen zu können. Amalia Tocchi, Elias Frau und Davides Mama, hatte ihnen in der Früh frisches Weißbrot, etwas Salami und Schinken, ein paar Tomaten und ein großes Stück Käse eingepackt, das reichte ihnen als Mittagessen aus. Nachdem Davide auch am Nachmittag das Steuer übernehmen wollte, konnte sich Elia zum Essen auch noch zwei Gläschen Vino rosso gönnen, während sein Sohn beim Acqua minerale blieb. Gestärkt durch ihre köstliche Brotzeit waren beide bald wieder bereit für die zweite Tour des Tages.