Hartingers italienische Fälle
 

S.O.S. Florenz - Leseprobe

Der kleine Bub strampelte wild im Wasser. Eine der kleinen Wellen, die auf dem Wasser tanzten, schwappte ihm direkt ins Gesicht, er kniff die Augen zusammen, schüttelte sich kurz und stieß ein lautes, glucksendes Lachen hervor. Die großen kräftigen Arme von seinem Opa hoben ihn aus dem Wasser, warfen ihn ein Stück in die Höhe und fingen ihn kurz vor der Wasseroberfläche wieder auf. Der Kleine ließ einen freudigen Schrei los und streckte seinem Opa seine kleinen Ärmchen entgegen, um ihm damit zu signalisieren, dass er noch einmal in die Höhe geworfen werden wollte. Den Gefallen tat ihm sein Opa natürlich gerne. 

„Nicht so wild, Papa, sonst schläft er mir hernach wieder überhaupt nicht.“ 

„So wild wie er jetzt die ganze Zeit im warmen Wasser herumgestrampelt hat, müsste er doch abends richtig müde sein.“ 

„Im Gegenteil. Nach unserem ersten Babyschwimmen letzte Woche war er so aufgedreht, dass er abends um neun immer noch nicht geschlafen hat.“ 

Max Hartinger warf seinen kleinen Enkel noch einmal in die Höhe, bevor dessen Mama ins Becken stieg, um ihren kleinen Maxi aus dem Wasser zu holen. Als er bemerkte, was seine Mama vorhatte, protestierte er lautstark dagegen und fing zu strampeln an, sie ließ sich aber von seinen Tränen nicht umstimmen. 

„Wir kommen doch bald wieder her, Maxi, aber für heute ist es genug.“ 

Weil die anderen Mütter mit ihren Babys längst das Becken verlassen hatten und wie Martina in Richtung Umkleide gegangen waren, nutzte ihr Papa die Gelegenheit, um noch ein paar Bahnen auf und ab zu schwimmen, auch wenn das Becken recht klein war.  


Während Max Hartinger, der Rosenheimer Kriminalkommissar, am Freitagnachmittag mit seiner Tochter Martina und seinem ersten Enkelkind im Klinikum Rosenheim beim Babyschwimmen war, stand seine Frau Chiara zuhause in der Küche, um fürs Wochenende einen Kuchen zu backen und die Vorbereitungen fürs Abendessen zu treffen. Sie schnitt gerade ein paar Tomaten klein, als das Telefon klingelte. Die Handy-Nummer auf dem Display kam ihr bekannt vor, sie wusste aber auf Anhieb nicht, wem sie gehörte. 

„Hallo?“, meldete sie sich. 

„Chiara? Hier ist Dino.“ 

Ciao Dino, das ist aber eine Überraschung. Wie geht’s dir?“ 

Der Anrufer hatte aber offenbar keine Lust und keine Nerven für eine gepflegte Unterhaltung. 

„Ist Max zuhause? Ich habe schon mehrfach versucht, ihn am Handy anzurufen, aber da schaltet sich immer nur die Mailbox ein.“ 

„Er ist mit Martina und dem Kleinen beim Babyschwimmen, sein Handy liegt deswegen sicher im Spind in der Umkleidekabine. Kann ich ihm etwas ausrichten?“ 

Chiara fiel auf, dass Dino laut und angestrengt atmete, so als ob er gerade eine längere Strecke ziemlich schnell gerannt wäre. 

„Ich bin in Florenz und brauche dringend seine Hilfe. Falls er noch nicht gesehen hat, dass ich ihn angerufen habe, wenn er nach Hause kommt, dann sag ihm bitte, dass er mich umgehend anrufen soll. Es ist wirklich dringend.“ 

„Bist du in Gefahr, Dino?“ 

Weil sie keine Antwort bekam, schloss Chiara daraus, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag. 

„Wenn du so dringend Hilfe brauchst, warum wendest du dich nicht an die Carabinieri?“ 

„Um Himmels Willen, ich renn doch nicht zu den Carabinieri und liefere mich dort selbst ans Messer. Wenn mir etwas zustoßen sollte, darf Max auf keinen Fall die Carabinieri von Florenz einschalten. Hörst du? Auf keinen Fall.“ 

Mittlerweile schlug auch Chiaras Herz ziemlich schnell. 

„Was ist denn bei dir los, Dino? Wirst du bedroht? Und warum sollten dir die Carabinieri nicht helfen können?“ 

Dino fiel ihr ins Wort, ohne ihr eine Antwort zu geben. 

„Ich muss Schluss machen, Chiara. Bitte nicht vergessen, dass mich Max so schnell wie möglich anrufen soll. Ciao.“ 

„Dino? Hallo?“ 

Chiara bekam keine Antwort mehr, wartete einige Augenblicke und hängte dann ein. 

„Was war das denn jetzt?“, sagte sie zu sich selbst und ging in die Küche zurück, wo ihr Handy lag. 

Sofort drückte sie die Wahlwiederholungstaste, aber offenbar war ihr Mann immer noch im Wasser, weil sich wie bei Dinos Anrufen nur die Mailbox einschaltete. Sie verzichtete darauf, auch noch eine Nachricht zu hinterlassen, brach die Verbindung ab und legte das Handy beiseite. Es dauerte keine zehn Minuten, da rief Max bei ihr an. 

„Hallo, mein Schatz, wir sind gerade aus dem Wasser gekommen.“ 

„Servus Max, stell dir vor, ich hatte vorhin einen ganz eigenartigen Anruf aus Florenz, von Dino.“ 

„Ich habe schon gesehen, dass er ein paar Mal versucht hat, mich zu erreichen, er hat mir aber nicht auf die Mailbox gesprochen. Was wollte er denn?“ 

„Er wollte dich dringend sprechen, den genauen Grund dafür hat er mir aber nicht verraten. Es hat sich aber so angehört, als würde er in ziemlichen Schwierigkeiten stecken.“ 

„Dino in Schwierigkeiten? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Aber selbst wenn, warum ruft er dann ausgerechnet bei mir an?“ 

„Das kann ich dir auch nicht sagen. Ich wollte ihn an die Carabinieri verweisen, da hat er fast hysterisch aufgeschrien und gemeint, da könne er auf keinen Fall hingehen, weil er sich sonst selbst ans Messer liefern würde.“ 

„Das hört sich alles sehr eigenartig an. Am besten rufe ich ihn gleich einmal selbst an.“ 

„Gut. Er hat übrigens noch erwähnt, dass du keinesfalls die Carabinieri von Florenz einschalten darfst, falls ihm etwas zustoßen sollte.“ 

„Okay, ich glaube, da brennt’s wirklich. Wir brauchen uns nur noch anziehen, dann kommen wir heim. Aber als allererstes ruf ich jetzt Dino an. Ciao, bis später.“ 

„Servus Max.“  

Chiara wandte sich wieder den Vorbereitungen fürs Abendessen zu. Eine Dreiviertelstunde später, als sie die Gemüse-Lasagne gerade in den Ofen geschoben hatte, kamen Max und Martina mit dem acht Monate alten Maxi nach Hause. Martina, die ältere der beiden Hartinger-Töchter, wohnte mit ihrem Mann Robert nur etwa fünf Auto-Minuten entfernt, Robert wollte zum Abendessen auch an den südlichen Stadtrand von Rosenheim, in die Wohnung seiner Schwiegereltern, kommen. 

„Was hast du von Dino erfahren?“, wollte Chiara sofort wissen, als Max bei der Küchentür hereinkam. 

„Ich habe ihn noch nicht erreicht, er geht nicht an sein Handy. Anscheinend hat er auch keine Mailbox eingerichtet, so dass ich ihm nicht einmal eine Nachricht hinterlassen konnte.“ 

„Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen, sein Anruf vorhin war schon ein ziemlich verzweifelter Hilferuf.“ 

„Ich kann mir das nicht erklären. Warum sollte er bei den Carabinieri keine Hilfe bekommen?“ 

„Er hat doch gesagt ‚ich liefere mich nicht selbst ans Messer‘. Was kann er denn damit gemeint haben, Max?“ 

„Im Normalfall würde ich sagen, er hat irgendetwas ausgefressen und muss befürchten, verhaftet zu werden. Aber das würde zu Dino überhaupt nicht passen. Er ist der engagierteste und pflichtbewussteste der jungen Kollegen, die wir in unserem Kommissariat haben, für ihn würde ich meine Hand ins Feuer legen.

“ Max nahm erneut sein Handy zur Hand und ließ es wieder Dinos Nummer wählen, aber sein Anruf lief auch diesmal ins Leere. Daraufhin schrieb er ihm eine WhatsApp-Nachricht mit der Bitte, sich noch einmal selbst zu melden. Der einzelne Haken an seiner Nachricht zeigte Max, dass sie nicht sofort zugestellt worden war. In der Statusleiste las er, dass Dino zuletzt zehn Minuten nach fünf online gewesen war, etwa zehn Minuten, nachdem er zuletzt bei Max angerufen hatte. 

„Wann hast du denn mit Dino gesprochen, mein Schatz?“ 

„Das muss kurz nach fünf gewesen sein.“ 

Max ging daraufhin in die Diele hinaus und sah sich beim Festnetz-Telefon die Anrufliste an. Tatsächlich war dort aufgezeichnet, dass Dinos Anruf um zwei Minuten nach fünf eingegangen war. Nochmal griff er zu seinem Handy und sah, dass seine WhatsApp-Nachricht noch immer nicht zugestellt war. 

„Das ist schon sehr eigenartig“, überlegte Max laut. „Wenn er so dringend auf meinen Anruf wartet, warum schaltet er sein Handy dann aus? Oder hält er sich inzwischen, vielleicht sogar zwangsweise, irgendwo auf, wo er keinen Empfang hat?“ 

Im Kopf von Max fing es zu arbeiten an. Warum war Dino überhaupt nach Florenz gefahren? Max hatte nur mitbekommen, dass der junge Kollege für ein paar Tage in die Hauptstadt der Toscana reisen wollte, den eigentlichen Grund dafür kannte er allerdings nicht. 

„Ich kann nur warten, bis er sich selbst wieder meldet. Offenbar ist sein Handy ausgeschaltet“, erklärte er seiner Frau, als er in die Küche zurückkam. 

Auch Chiara fand es eigenartig, das Handy auszuschalten, wenn man vorher so auf einen Rückruf gedrängt hatte. 

„Da ist bestimmt irgendetwas passiert, Max, das spüre ich. Was könnte es denn für einen Grund geben, dass er nicht zu den Carabinieri gehen kann, wenn er selbst nichts ausgefressen hat?“ 

„Das ist schwer zu sagen, Chiara. Grundsätzlich könnte er der Meinung sein, dass er dort keine Hilfe erwarten kann. Aber so wie du sein Verhalten geschildert hast und er sogar die Carabinieri nicht eingeschaltet haben möchte, wenn ihm etwas zustoßen sollte, könnte man fast hineininterpretieren, dass dann die Carabinieri oder zumindest einige der in Florenz stationierten etwas damit zu tun hätten, wenn ihm etwas zugestoßen ist. Aber das ist mir jetzt viel zu viel Spekulation, ich hoffe, dass er sich bald meldet, dann wird sich bestimmt alles aufklären.“ 

„Wen willst du aufklären, Papa?“, fragte Martina schnippisch, als sie mit ihrem nun satten und fast schon eingeschlafenen Baby aus dem Wohnzimmer in die Küche kam. 

„Niemanden“, antwortete Max ungewohnt ernst. „Ich habe gemeint, dass sich hoffentlich bald aufklärt, warum sich Dino nicht mehr meldet, obwohl er mich dringend sprechen wollte.“ 

„Er meldet sich nicht mehr? Ist ihm etwas passiert?“, fragte sie erschrocken. 

Schnell legte sie den kleinen Maxi in das Kinderbett in ihrem ehemaligen Kinderzimmer, das ihre Eltern schon bald nach ihrem Auszug gleich nach dem Abitur zu einem Gästezimmer umfunktioniert hatten. Nachdem sie die Zimmertür leise hinter sich zugemacht hatte und wieder in der Küche war, fragte sie nochmals: 

„Also, was ist jetzt mit Dino?“ 

Max ließ Chiara Dinos Anruf schildern und ergänzte dann seine vergeblichen Rückruf-Versuche und seine WhatsApp-Nachricht. 

„Vor zwei Wochen, als ihr auf den Maxi aufgepasst habt, während wir auf der Geburtstagsparty waren, haben wir Dino getroffen. Robert hat auch mal länger mit ihm geratscht, da bin ich aber nicht dabei gewesen, deswegen kann ich dir nicht sagen, worüber sie sich unterhalten haben“, erzählte Martina und blickte auf die Uhr. 

„Bis in zwanzig Minuten müsste Robert sowieso da sein, dann kann er dir vielleicht sagen, was Dino in Florenz vorgehabt hat.“

Bis Robert eintraf, hatte Max drei weitere Male erfolglos versucht, Dino zu erreichen. Die ganze Familie setzte sich dann gleich an den Tisch und während sie sich Chiaras köstliche Gemüse-Lasagne schmecken ließen, löcherte Max seinen Schwiegersohn mit Fragen. 

„Das kann ich dir im Detail gar nicht alles beantworten“, erwiderte Robert. „Ich weiß nur, dass er in erster Linie wegen einer jungen Italienerin nach Florenz gefahren ist. Als er vor acht Wochen schon einmal dort war, ging es um irgendeine alte Familiengeschichte von seinem Opa.“ 

„Von seinem Opa?“, fragte Chiara erstaunt. 

„Ja, sein Opa wohnt in München, er ist Ende der sechziger Jahre von Florenz aus nach Deutschland gekommen, seine Oma ist gebürtige Münchnerin.“ 

„Und was hat es mit dieser jungen Italienerin auf sich?“, bohrte Max nach. 

„Soviel ich weiß, arbeitet sie in einer Galerie, Dino hat sie wohl vor acht Wochen kennen gelernt und ist total in sie verschossen.“ 

„Mehr hat er dir nicht erzählt?“ 

Max war sichtlich enttäuscht, dass Robert nicht mehr Antworten auf seine vielen Fragen hatte. 

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Streit mit einem eventuellen Nebenbuhler so eskalieren könnte, dass er ausgerechnet mich um Hilfe bittet. Außerdem passt dazu auch nicht seine Panik vor den Carabinieri-Kollegen in Florenz. Es muss also etwas anderes dahinterstecken als sein neuer Schwarm. Aber was?“

Robert, Martina und Chiara konnten ihm in diesem Punkt leider auch nicht weiterhelfen. Max, der sich gerade den letzten Happen seiner Lasagne in den Mund geschoben hatte, stand abrupt auf. 

„Ich muss mit seinen Eltern sprechen.“ 

„Papa, meinst du, dass das eine gute Idee ist? Vielleicht stellt sich alles als ganz harmlos heraus, dann hast du ihnen unnötig Sorgen bereitet. Dino ist ein erwachsener Mann, der seit gut eineinhalb Stunden nicht an sein Handy geht. Na und? Vielleicht hat er kurz nach seinen Anrufen bei dir seine Italienerin getroffen, dann hat er jetzt sicher etwas Besseres zu tun, als mit dir zu telefonieren“, grinste Martina ihren Papa an, wurde dann aber wieder ernster. „Warte bis morgen Früh, wenn du ihn bis dahin noch nicht erreicht hast und er sich selbst auch nicht wieder gemeldet hat, dann kannst du dich immer noch an seine Eltern wenden.“

Bevor Max etwas erwidern konnte, stimmten Chiara und Robert Martinas Argumentation zu, so ließ sich Max schließlich davon überzeugen, dass es vielleicht doch besser war, noch etwas zu warten, bevor er Dinos Eltern beunruhigte.

Zum Nachtisch hatte Chiara einen Schokoladenpudding gekocht. Im Nachdenken über Dinos ungewöhnlichen Anruf verdrückte Max zwei riesige Portionen, während sich die anderen drei auf ein kleines Schüsselchen beschränkten. Martina und Robert brachen bald danach auf, weil der kleine Maxi aufgewacht war, pausenlos schrie und nicht mehr zu beruhigen war. 

„Danke, Mama, für dein wie immer köstliches Essen.“ 

Martina umarmte Chiara, die ihrem kleinen Enkel noch einen dicken Kuss auf die Wange drückte. 

„Nächste Woche fahr ich wieder mit zum Babyschwimmen.“ 

Max hatte sich den Freitagnachmittag freigenommen, weil er auch einmal dabei sein wollte, wenn sein erstes Enkelkind im Wasser herumtollte. Auch er umarmte Martina, von Robert verabschiedete er sich wie immer mit einem Handschlag. 

„Ruf uns kurz an, wenn du etwas von Dino gehört hast“, bat Robert seinen Schwiegervater.

„Mach ich. Kommt gut heim.“ 

Die Wohnung in der Robert und Martina wohnten, lag ganz in der Nähe von dem Pferdehof von Roberts Vater und war ihm von seinem Vater überschrieben worden, als er volljährig geworden war. Robert hatte eine Ausbildung zum Pferdewirt absolviert und arbeitete schon seit vielen Jahren auf dem Hof, den er zusammen mit seinen Geschwistern einmal erben sollte. Dino Bass war ein Schulkamerad von ihm, der auch bei Martinas und Roberts Hochzeit eingeladen gewesen war. Bei der Feier hatten auch Martinas Eltern Dino näher kennen gelernt. Nicht lange danach war Dino bei der Rosenheimer Kripo ein Kollege von Max geworden. Sie hatten zwar noch keinen großen Kriminalfall zusammen bearbeitet, von seinen Kollegen hatte Max aber bisher nur das Beste über den jungen Dino gehört.

Max Hartinger selbst arbeitete schon mehr als dreißig Jahre bei der Rosenheimer Kripo. Er war siebenundzwanzig Jahre alt gewesen, als er im Gedränge des Münchner Oktoberfestes mit Chiara zusammengestoßen war. Der rote Liebesapfel, den sie in der Hand gehabt hatte, war an seinem T-Shirt klebengeblieben und hatte einen unübersehbaren Fleck hinterlassen. Für beide war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Die gebürtige Römerin Chiara war damals mit einer Freundin unterwegs gewesen, die mit ihr zusammen auf der Universität La Sapienza in Rom Germanistik studiert hatte. Schon zwei Jahre später läuteten die Hochzeitsglocken in einem kleinen oberbayerischen Kirchlein, im Jahr darauf war Martina zur Welt gekommen und wiederum zwei Jahre später hatte Elena die vierköpfige Familie perfekt gemacht. Elena hatte sich schon von klein auf immer sehr interessiert an der Polizeiarbeit gezeigt und hatte zum Teil abenteuerliche Theorien aufgestellt, wer bei den Kriminalfällen ihres Papas als Täter in Frage kam. Was für sie zuerst nur ein Spiel war, konkretisierte sich bei ihr später immer stärker als eigener Berufswunsch. Max war natürlich sehr stolz darauf gewesen, dass sie beruflich in seine Fußstapfen treten wollte und hatte sie bei ihrem Vorhaben unterstützt. Nach dem Studium an der Polizeihochschule in Fürstenfeldbruck war sie nun schon seit mittlerweile vier Jahren bei der Kripo in München tätig. Mit ihrem Freund Carlos, einem Deutsch-Spanier, wohnte sie in Erding, wo Carlos ebenfalls bei der Polizei arbeitete.

Bis er ins Bett ging, hatte Max Hartinger noch fünfmal vergeblich die Handy-Nummer von Dino gewählt. Den ganzen Abend überlegte er, was mit ihm passiert sein könnte und was er am Samstag in der Früh unternehmen würde, falls er bis dahin nicht mit Dino gesprochen hätte. Zuerst musste er natürlich Dinos Eltern anrufen, das war klar, aber wen sollte er vor Ort in Florenz kontaktieren? Konnte er Dinos eindringliche Warnung ignorieren und mit den Carabinieri sprechen oder brachte er ihn damit unter Umständen noch zusätzlich in Gefahr? Mit diesen Gedanken ging er spätabends ins Bett und hatte wie vermutet eine ziemlich unruhige Nacht. Immer wieder wachte er auf und schaute auf sein Handy, aber Dino hatte weder angerufen, noch eine Nachricht geschrieben. 

Normalerweise stand Chiara vor ihrem Mann auf, vor allem am Wochenende. An diesem Samstag aber kroch Max schon kurz vor sieben völlig gerädert aus den Federn. Wenn er geschlafen hatte, dann hatte er nur wirres Zeug von wilden Verfolgungsjagden durch Florenz geträumt, immer wieder war er länger wach gelegen. So früh konnte er natürlich bei Dinos Eltern noch nicht anrufen, alleine frühstücken wollte er auch nicht, deshalb beschloss er, die Zeit sinnvoll zu nutzen und wieder einmal eine Runde zu joggen, was er viel zu selten tat, obwohl ihm seine Waage oft genug einen Hinweis darauf gab, mehr Sport zu treiben. Am Ende seiner üblichen Jogging-Runde machte er bei einer Bäckerei Halt, kaufte frische Semmeln und Brezen und lief zur Wohnung zurück. Chiara war inzwischen auch schon aufgestanden, der Duft von frischem Kaffee zog bereits durch die Wohnung. 

„Max, du warst joggen?“, rief sie erstaunt aus, als ihr Mann plötzlich völlig verschwitzt in der Diele stand. „Ich dachte, du bist nur zum Bäcker rüber.“ 

„Du tust ja grade so, als wäre ich noch nie beim Joggen gewesen“, protestierte Max übertrieben laut und machte ein beleidigtes Gesicht, musste dann aber doch lachen. „Ich habe das jetzt einfach gebraucht, um richtig wach zu werden, ich habe nämlich ziemlich schlecht geschlafen.“ 

„Es würde dir nicht schaden, wenn du öfter mal schlecht schlafen würdest“, lachte Chiara schnippisch und nahm ihm die Tüte mit den Semmeln und Brezen aus der Hand. „Der Kaffee müsste gleich fertig sein.“ 

„Ich spring noch schnell unter die Dusche, so verschwitzt mag ich mich nicht an den Tisch setzen.“  

Fünf Minuten später biss Max in seine knusprige Breze und trank einen großen Schluck Kaffee dazu. 

„Was meinst du, ab wann kann ich bei Dinos Eltern anrufen?“ 

„Ich kenne deren Gewohnheiten nicht, aber bis halb zehn oder zehn solltest du heute am Samstag schon warten.“ 

Nach dem Frühstück startete er erneut einen Versuch, Dino anzurufen, mit dem gleichen Ergebnis wie bei den über zehn Anrufen davor. Auf seinem Smartphone sah er, dass Martina kurz zuvor online gewesen war, sie war also auch schon auf. Sofort rief er sie an, erzählte ihr, dass er noch immer keinen Kontakt zu Dino gehabt hatte und fragte sie, ob sie wüsste, ab wann er Dinos Eltern ungefähr anrufen könnte. 

„Die sind sicher schon auf, Papa. Denen gehört die kleine Vinothek in der Fußgängerzone und am Samstag stehen sie meistens selbst im Laden. Ich glaube, die sperren heute um halb zehn auf.“ 

„Gut, dann wird es am besten sein, ich geh heute Vormittag gleich zu ihnen.“ 

„Und was willst du machen, wenn sie auch seit gestern nichts mehr von Dino gehört haben?“ 

„Direkt an die Carabinieri in Florenz kann ich mich nicht wenden, wenn mich Dino schon ausdrücklich davor gewarnt hat. Ich könnte mal bei Francesco anrufen, ob er einen absolut zuverlässigen und integren Carabiniere in Florenz kennt und wenn ich bei ihm keinen Erfolg habe, dann hätte ich schon noch einige andere Carabinieri in petto, die ich fragen könnte.“

Chiaras einziger Bruder Francesco war mit einer Ischitanerin verheiratet und schon mehr als zwanzig Jahre auf der Insel Ischia im Golf von Neapel als Carabiniere tätig. Mit ihm zusammen hatte Max im Urlaub bereits einen Doppelmord auf Ischia gelöst, in Rom nach einem entführten kleinen Mädchen gesucht, sowie einen weiteren spektakulären Kriminalfall in Amalfi gelöst, wo Francesco im Vorjahr den ganzen Sommer als Krankheitsvertretung eingesetzt gewesen war. Immer noch in Kontakt war er mit Emilio Brentani, dem Leiter der Carabinieri-Einheit in Rosenheims Partnerstadt Lazise am Gardasee. Dort hatte Max im Rahmen eines EU-weiten Austauschprogramms einmal vier Wochen ganz offiziell gearbeitet und in dieser Zeit tatkräftig mitgeholfen, das mysteriöse Verschwinden eines Münchner Unternehmers aufzuklären. Der erste weibliche Maresciallo, mit dem Max zusammengearbeitet hatte, war Valentina Cona in Venedig gewesen. Mit ihr hatte er in einem Mordfall ermittelt, bei dem Chiara mit zu den Verdächtigen zählte. Zuerst war Chiara ziemlich eifersüchtig auf Valentina gewesen, erst als sie gehört hatte, dass Valentina einen Freund hat, der noch dazu in Chiaras Heimatstadt Rom lebt, war sie etwas besänftigt gewesen. Inzwischen hatte es mit Valentinas Versetzung von Venedig nach Rom geklappt, seit eineinhalb Jahren arbeitete sie nun schon in der italienischen Hauptstadt und Chiara und natürlich auch Max telefonierten immer wieder einmal mit ihr. Mit den Carabinieri in Tropea und Assisi, mit denen Max auch schon zwei aufsehenerregende Verbrechen aufklären konnte, hatte er leider gar keinen Kontakt mehr.

Im Hintergrund machte sich plötzlich der kleine Maxi bemerkbar. 

„Der kleine Vielfraß hat schon wieder Hunger“, lachte Martina „Von wem er das wohl hat? Von mir und von Robert bestimmt nicht.“ 

„Von mir bestimmt nicht“, äffte Max seine Tochter lachend nach. „Von wem denn sonst? Er hat doch eure Gene.“ 

„Vielleicht überspringt sowas auch mal eine Generation“, erwiderte Martina und prustete los vor Lachen.

 „Zuerst zieht man sie groß und dann werden sie frech“, schoss Max sofort zurück. 

Martina konterte nicht noch einmal, sondern beendete das Telefonat, weil Maxi immer lauter seine nächste Mahlzeit einforderte. 

„Halte uns bitte auf dem Laufenden, Papa.“ 

„Mach ich. Ciao.“ 

In der Küche half Max anschließend seiner Frau, die Reste des Frühstücks wegzuräumen, setzte sich dann ins Wohnzimmer, um die Rosenheimer Tageszeitung durchzublättern, schaute dabei aber immer wieder auf die Uhr, weil er pünktlich um halb zehn vor der Tür der Vinothek stehen wollte. 

„Was meinst du, wie lange du mit Dinos Eltern beschäftigt sein wirst, Max?“, wollte Chiara wissen, als er sich wenig später von ihr verabschieden wollte. 

„Es kommt darauf an, was die alles zu erzählen haben, aber mehr als zwanzig Minuten sollte das eigentlich nicht dauern. Warum fragst du?“ 

„Ich könnte mitfahren und schnell ein paar Kleinigkeiten in der Innenstadt erledigen. Das könnte allerdings ein bisschen länger dauern als zwanzig Minuten.“ 

„Ist doch egal, dann setze ich mich auf dem Max-Josefs-Platz ein bisschen zum Kaffeetrinken in die Sonne und warte auf dich, mein Schatz.“ 

„Gut, ich bin in zwei Minuten fertig.“

Rosenheims gute Stube, der Max-Josefs-Platz im Zentrum der oberbayerischen Stadt, war bis Anfang der achtziger Jahre einer der verkehrsreichsten Plätze im Stadtgebiet gewesen und wurde dann in eine Fußgängerzone umgestaltet, die 1984 eröffnet wurde. Ringsherum, unter den Arkaden der im Inn-Salzach-Stil erbauten Häuser, reihten sich kleinere Geschäfte, Cafés und Restaurants aneinander. Max hatte das Auto auf seinem Parkplatz beim Rosenheimer Polizeipräsidium abgestellt und war mit Chiara die wenigen hundert Meter zu Fuß in Richtung Zentrum marschiert. Hinter dem Mittertor, dem einzigen noch erhaltenen historischen Stadttor von Rosenheim, bog Chiara gleich in eine Buchhandlung ab, während Max auf die Vinothek von Dinos Eltern zusteuerte. Der Laden war noch leer, als Max kurz nach halb zehn eintrat. „Buongiorno“, sagte er instinktiv, als sich eine hübsche, südländisch aussehende Dunkelhaarige hinter dem Tresen zu ihm herumdrehte, die ungefähr sein eigenes Alter hatte. 

Buongiorno“, antwortete sie. „Womit kann ich Ihnen helfen?“ 

„Mein Name ist Max Hartinger. Ich nehme an, Sie sind die Mutter von meinem Kollegen Dino Bass.“ „Richtig. Carolina Villiani-Bass“, stellte sie sich vor und streckte Max die Hand entgegen. „Was führt Sie zu mir, Commissario? Hat mein Dino etwas angestellt?“ 

„Nein, davon gehe ich nicht aus. Ich mache mir aber trotzdem Sorgen um ihn. Signora Villiani-Bass, wann haben Sie zuletzt etwas von Dino gehört?“ 

Ihr Lächeln wich augenblicklich aus ihrem Gesicht, sie schaute Max erschrocken an, antwortete aber sofort. „Dino ist am Samstag nach Florenz gefahren und hat sich gleich gemeldet, als er angekommen war. Ein zweites Mal hat er am Mittwochabend angerufen. Warum fragen Sie mich das?“ 

Max berichtete ihr von Dinos Anruf-Versuchen bei ihm, dem kurzen Telefonat mit Chiara und dass Dino seitdem nicht an sein Handy gehen würde und sich selbst auch nicht mehr gemeldet hätte. 

„Können Sie sich vorstellen, was da dahinterstecken könnte?“ 

Sie schüttelte mit dem Kopf. 

„Das passt überhaupt nicht zu ihm, normalerweise ist er immer sehr zuverlässig. Hoffentlich ist ihm nichts passiert.“ 

„Was hatte er denn in Florenz vor?“ 

„In erster Linie ist er wegen einer jungen Italienerin, die er vor zwei Monaten kennen gelernt hat, hingefahren.“ 

„Was gab es noch für einen Grund?“ 

„Das ist eine längere Geschichte, Commissario.“ 

„Ich habe Zeit.“ 

Carolina Villiani-Bass wollte gerade zu erzählen beginnen, als ein Kunde die Vinothek betrat. Da er aber eine genaue Vorstellung davon hatte, welchen Wein er haben wollte, war der Kunde schnell bedient und verließ die Vinothek wieder. Er gab die Klinke einem anderen Herrn in die Hand, diesmal war es aber kein Kunde, sondern, wie sich herausstellte, Dinos Vater Konrad Bass, der den Laden betrat. Ganz aufgeregt erzählte ihm seine Frau sofort, was sie von Max Hartinger erfahren hatte. 

„Ich war gleich skeptisch, als er zum Detektiv-Spielen nach Florenz fahren wollte.“ 

„Das hilft uns jetzt auch nicht weiter“, erwiderte sie nur kurz und wandte sich wieder an Max. 

Commissario, lassen Sie uns nach hinten gehen, dort können wir uns in Ruhe unterhalten.“