Hartingers italienische Fälle
 

RÖMISCHES LABYRINTH - Leseprobe


Kapitel 3:

Alfredo Riva hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Stundenlang hatte er sich im Bett von einer Seite auf die andere gewälzt und in den kurzen Phasen, in denen er eingeschlafen war, plagte ihn immer wieder ein ähnlicher Traum. Er befand sich in einer großen dunklen Kirche. Durch die hohen bunten Fenster fiel nur wenig Licht herein, auf dem Altar brannte lediglich eine Kerze. Im Lichtschein der kleinen Flamme sah man, den Weihrauch, der sich wie ein Nebelschleier im Presbyterium ausbreitete. Von der Orgel erklang die d-moll-Toccata von Johann Sebastian Bach und verstärkte die düstere Atmosphäre. Alfredo lief im Mittelgang nach hinten, genau auf das Hauptportal zu. Doch je schneller er lief und je mehr er sich anstrengte, zum Ausgang zu gelangen, desto weiter schien sich die große Holztür von ihm wegzubewegen. Außerdem hatte er das Gefühl, dass er verfolgt wurde, immer wieder nahm er einen großen dunklen Schatten wahr, ohne erkennen zu können, wer da hinter ihm her war. Allmählich schien er eingeholt zu werden, denn plötzlich hörte er deutlich Schritte hinter sich, die immer näher kamen. Schließlich wachte er schweißgebadet auf, wälzte sich weiter in seinen Laken herum, um dann in der nächsten kurzen Schlafsequenz einen ähnlichen Albtraum zu erleben. 

Erst als der Morgen schon graute, war es Alfredo vergönnt, etwas länger zu schlafen, ohne zum wiederholten Male in der großen Kirche auf der Flucht zu sein. Die Frühlingssonne schien schon zum Fenster herein, als er ziemlich gerädert von der unruhigen Nacht aufstand und sich sofort unter die Dusche stellte. Das kalte, erfrischende Wasser erweckte die Lebensgeister in ihm, danach fühlte er sich schon viel besser. Der heiße starke Kaffee, den er sich in seiner kleinen Küche kochte, tat auch seine Wirkung, nun fühlte er sich fit für den neuen Tag und das Abenteuer, das ihm in den folgenden Stunden bevorstand. Er hatte sich in seiner Bäckerei einen Tag frei genommen, sonst wäre er bereits seit halb Vier in der Backstube gestanden. Nach mehreren Wochen Vorbereitungszeit war endlich der Zeitpunkt gekommen, an dem der bisher gewagteste Tausch eines Gemäldes mit der von seinem Bruder angefertigten Kopie stattfinden konnte. Das über zweihundert Jahre alte Original der Tre beati teatini sollte seinen angestammten Platz in der Basilica Sant’Andrea della Valle verlassen und in den Privatgemächern eines gut betuchten römischen Kunstsammlers verschwinden. 

Alfredos Bruder Enzo hatte bereits am Vorabend von einem Freund einen Lieferwagen, einen weißen Fiat Ducato, abgeholt, den er sich immer wieder einmal ausleihen konnte, wenn er größere Möbelstücke zu transportieren hatte. Ebenfalls am Abend zuvor hatte Alfredo auf einem Schrottplatz am Rande der Stadt von einem alten Auto die Nummernschilder abgeschraubt und mitgenommen. Vorsorglich wollten sie die Kennzeichen des Ducato austauschen, falls sie jemand bei ihrer Aktion beobachten sollte. Gemeinsam hatten sie außerdem die Kopie der Tre beati teatini in zwei große braune Decken eingehüllt und gut verschnürt, damit sie beim Transport nicht beschädigt werden konnte. Im Schutz der Dunkelheit hatten sie ihre heiße Fracht dann noch zu dem in der Nähe von Enzos Werkstatt geparkten Lieferwagen getragen.

 

Wie vereinbart trafen sich die zwei Brüder um zehn Uhr beim Parkplatz des Lieferwagens.

„Ich habe heute Nacht sehr schlecht geschlafen“ beklagte sich Enzo, als er hinter den Fahrersitz kletterte.

„Mir ist es nicht besser ergangen, außerdem habe ich unentwegt wirres Zeug geträumt.“

„Das sind die Nerven, Alfredo. Hast Du alles dabei, was Du brauchst?“

„Ja, sicher“ bestätigte er seinem Bruder. Trotzdem öffnete Alfredo seinen Rucksack und wühlte in den Sachen, die er darin eingepackt hatte.

„Der Rom-Reiseführer, die Sturmhaube, mein Werkzeug, das Klebeband, meine Lederhandschuhe, ein paar Stofftaschentücher und natürlich das Fläschchen mit dem Chloroform – es ist alles da.“

„Ich habe meine Handschuhe auch dabei. Dann kann es ja losgehen“ stellte Enzo fest und startete den Motor des Ducato.

Andiamo, gehen wir es an“ stimmte ihm Alfredo zu.

Schweigend steuerte Enzo den Lieferwagen durch die Straßen des Borgo in Richtung Engelsburg und Tiber, überquerte den Tiber auf der Ponte Principe Amadeo Savoia Aosta, aber anstatt geradeaus auf direktem Weg zum Corso Vittorio Emanuele II zu fahren, bog er nach links ab. Am Tiber entlang fuhren sie bis zur Ponte Duca d’Aosta, auf der sie wieder auf die andere Seite des Tibers wechselten und direkt zum Gelände der Olympischen Sommerspiele 1960 gelangten, das Foro Italico genannt wird. Dort kannte Enzo direkt am Olympiastadion einen Parkplatz, der von der Hauptstraße aus nicht einsehbar war und der in der Regel einsam und verlassen da lag, solange im Stadion keine Fußballspiele oder andere Veranstaltungen stattfanden. Am Parkplatz angekommen setzte er den Lieferwagen rückwärts in eine Parklücke, die von mehreren dichten Büschen begrenzt war. Während Alfredo ausstieg und nach hinten ging, blieb Enzo in der Fahrerkabine sitzen, um die gesamte Umgebung besser im Blick zu haben. 

Alfredo brauchte nur eine Minute, um am Heck des Ducato die Kennzeichen auszutauschen. Als er fertig war, gab er seinem Bruder ein Zeichen, Enzo ließ den Motor an und wendete, so dass jetzt die Schnauze des Fiat in Richtung der Parkplatzbegrenzung zeigte. Nun stieg auch er aus, stellte sich ans Heck, holte sein telefonino aus der Jackentasche hervor und tat so, als würde er telefonieren. Die Zufahrt zum Parkplatz ließ er dabei keine Sekunde aus den Augen. Es dauerte wieder kaum eine Minute, dann hatte Alfredo auch das vordere Kennzeichen des Ducato durch das am Vorabend am Schrottplatz entwendete ersetzt. 

Auf der Rückfahrt wechselten sie wiederum kein Wort, Enzo konzentrierte sich auf den dichten Verkehr, Alfredo ging in Gedanken wieder und wieder seinen Plan zum Tausch der Bilder durch. Wie bei den ersten erfolgreichen Bildertausch-Aktionen wollte er sich im Beichtstuhl verstecken, bis der Mesner zur Mittagszeit die Kirche für Besucher schloss. Weil aber das Gemälde der Tre beati teatini viel zu groß für einen Transport im Rucksack war, musste er den Mesner mit dem Chloroform wohl oder übel ins Reich der Träume schicken, um das Original unbeobachtet aus der Kirche abtransportieren zu können. Als sein Bruder in den Corso Vittorio Emanuele II einbog, sah Alfredo auf seine Armbanduhr.

„Nun habe ich noch knapp eineinhalb Stunden Zeit, bis die Kirche abgeschlossen wird, das sollte reichen.“

Enzo blickte zu ihm hinüber und nickte stumm. Als er wieder nach vorne sah, bemerkte er im letzten Augenblick, dass der rote Alfa Romeo vor ihm bremsen musste, weil ein Fußgänger plötzlich auf die Straße getreten war, ohne auf den fließenden Verkehr zu achten. Enzo trat mit voller Wucht auf das Bremspedal. Mit laut quietschenden Reifen kamen sie kurz vor dem Heck des Alfa zum Stehen.

Laut fluchend schimpfte er auf den Fußgänger.

„Das hätte uns gerade noch gefehlt, mit einem geliehenen Lieferwagen und geklauten Kennzeichen einen Unfall zu haben.“

Alfredo, dem sofort die Farbe aus dem Gesicht gewichen war, blies die Backen auf und schnaufte einmal tief durch.

„Ist gerade noch einmal gut gegangen.“ 

Im Gegensatz zur mächtigen Kuppel des Petersdomes, die schon von Weitem zu erkennen ist, egal aus welcher Richtung man sich dem Vatikan nähert, ist die Kuppel von Sant’Andrea della Valle erst aus unmittelbarer Nähe zu sehen, wenn man durch die tiefe Häuserschlucht des Corso Vittorio Emanuele II auf die Basilica zufährt. Dabei ist die Kuppel der Hauptkirche des Theatiner-Ordens die zweithöchste Roms nach der von San Pietro. Als sie die Kirche erreichten, fuhr Enzo am Hauptportal vorbei und bog nach rechts auf die Piazza Vidoni ab, die direkt auf der linken Seite des Längsschiffes der Kirche liegt. Alle Parkplätze entlang der Kirchenmauer und ebenso die auf den Asphalt aufgemalten Parkbuchten auf der gegenüberliegenden Seite der kleinen Piazza waren belegt. Langsam rollten sie bis ans Ende der rechts geparkten Autos und Enzo stellte den Motor ab.

„So, da wären wir. Vergiss nicht, Dein Handy auf lautlos zu schalten, wenn Du Dich versteckst.“

„Klar, ich bin ja kein Anfänger! Und Du gib sofort Bescheid, wenn sich hier draußen etwas Verdächtiges tun sollte. Lieber brechen wir heute ab und versuchen es in ein paar Tagen noch einmal, ehe wir uns heute erwischen lassen.“

„Außer dass ich vielleicht mit dem Wagen einem geparkten Auto im Weg bin, kann hier eigentlich nichts passieren. Hauptsache, in der Kirche geht alles glatt.“

„Wird schon klappen“ erwiderte sein Bruder, kramte den Reiseführer aus seinem Rucksack, öffnete die Beifahrertür und stieg aus.

„Wenn alles so funktioniert wie geplant, dann hole ich Dich um kurz nach Zwölf.“

„Viel Glück.“ 

Alfredo schlug die Tür hinter sich zu, warf sich den Rucksack über die rechte Schulter, marschierte an den geparkten Autos vorbei zurück zum Corso und betrat, mit dem Reiseführer in der Hand, als Tourist getarnt das Gotteshaus durch den Haupteingang. Die Tür schob er dabei mit der linken Schulter auf, um keine Fingerabdrücke auf dem Türgriff zu hinterlassen. Drinnen bekreuzigte er sich mit Weihwasser und machte eine Kniebeuge. Der beeindruckende weite und hohe Innenraum der Kirche war fast leer, nur ein japanisches Ehepaar stand rechts am Eingang der Cappella Barberini, der zweiten von insgesamt acht Kapellen, die links und rechts vom Längsschiff der Basilica angeordnet sind. Alfredo blieb gleich bei der ersten Kapelle auf der rechten Seite stehen, schlug seinen Reiseführer auf und begann halblaut zu lesen:

„In der ersten Kapelle rechts, der Cappella Lancellotti, spielt der erste Akt von Giacomo Puccinis Oper Tosca, dort heißt die Kapelle allerdings Cappella Attavanti.“

Die beiden Japaner sahen kurz zu ihm herüber, als er zu lesen begann und er drehte sich instinktiv zur Seite, damit sie sein Gesicht nicht sehen konnten. Sie beachteten ihn aber nicht weiter, sondern schossen ein paar Fotos von der Cappella Barberini und wandten sich dann den beiden Papst-Gräbern von Pius II. und Pius III. zu, die sich an den Wänden oberhalb der letzten Kapellenöffnung links und rechts vor dem Querschiff befinden. Alfredo schlenderte langsam von Kapelle zu Kapelle, tat jeweils so, als würde er in seinem Reiseführer lesen, hatte dabei aber immer die beiden Japaner im Blick, die nach den Papst-Gräbern nun die eindrucksvollen Fresken der imposanten Kuppel und der Apsis bewunderten. 

Gegen Viertel nach Elf schickten sich die beiden Touristen endlich an, nach ihrer ausführlichen Besichtigung die Kirche zu verlassen, kein anderer Besucher war in der Zwischenzeit hereingekommen, auch vom Mesner war weit und breit nichts zu sehen. Schleunigst zog sich Alfredo seine dünnen Lederhandschuhe an und lief, kaum dass die Tür hinter den Japanern zugefallen war, zu dem Beichtstuhl, der auf der rechten Seite des Längsschiffes an der mächtigen, breiten Säule zwischen der dritten und vierten Seitenkapelle stand, vergewisserte sich noch einmal, dass ihn niemand beobachtete, war mit einem Satz hinter der hölzernen Tür verschwunden und zog sie hinter sich zu. Eigentlich war es nur eine halbe Tür, denn sie verschloss nur den unteren Teil des Eingangs, der für den Priester vorgesehen ist. Die obere Hälfte ließ sich nur mit einem schwarzen Vorhang verschließen. Alfredo zog den Vorhang soweit zu, dass er noch ein klein wenig aus dem Beichtstuhl heraus sehen konnte, selbst aber darin nicht zu entdecken war. Nun konnte er nur noch abwarten. Der Minutenzeiger seiner Uhr schien sich überhaupt nicht vorwärts bewegen zu wollen, die dreiviertel Stunde bis kurz vor Zwölf kam ihm endlos lang vor. Außer ihm schien sich während der ganzen Zeit niemand in der Kirche aufzuhalten. Er nahm die Sturmhaube aus dem Rucksack und zog sie sich über. Durch den schmalen Spalt neben dem Vorhang beobachtete er pausenlos das Hauptportal der Kirche. Wenige Minuten vor Zwölf waren zwei ältere Frauen, bei denen es sich ganz offensichtlich nicht um Touristen handelte, hereingekommen. Wohin sie gegangen waren, konnte er nicht sehen, wahrscheinlich knieten sie sich in einer der Kapellen zum Beten nieder. 

Pünktlich mit dem Glockenschlag um zwölf Uhr hörte er den Mesner kommen. Da Alfredo in den zurückliegenden Wochen mehrfach das Innere der Basilica sowie die Gewohnheiten des Mesners ausgekundschaftet hatte, wusste er, dass dieser immer Turnschuhe trug, deren Gummisohle auf dem blanken Steinfußboden bei jedem Schritt ein leises, quietschendes Geräusch verursachten. Nun war das Quietschen unverkennbar zu vernehmen, wurde lauter und stoppte in der Nähe des Beichtstuhles.

„Entschuldigen Sie, meine Damen, ich muss die Kirche nun leider zusperren, es ist zwölf Uhr.“

Alfredo hielt den Atem an, als die beiden Frauen zusammen mit dem Mesner unmittelbar am Beichtstuhl vorbei zum Hauptportal der Kirche gingen. Er schraubte das Fläschchen mit dem Chloroform auf, das er schon seit ein paar Minuten in der Hand gehalten hatte, tränkte mit dem Inhalt zwei Stofftaschentücher, die auf seinem linken Knie bereitlagen und verstaute das Fläschchen anschließend in einer Seitentasche seines Rucksacks. Er vergewisserte sich, dass ihm der Rucksack nicht im Weg war, wenn er sich gleich aus dem Beichtstuhl schleichen und den Mesner überwältigen würde. 

Ganz deutlich war zu hören, wie die schwere Holztür zufiel und der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde. Wieder nahm er die quietschenden Schritte wahr und war bereit, in den nächsten Sekunden sein Versteck zu verlassen, sobald der Mesner den Beichtstuhl passiert hätte. Doch wieder verstummte das Geräusch seiner Schritte ganz plötzlich. Alfredo konnte nicht sehen, wo der Mesner stehen geblieben war. Was dann passierte, damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet.