Ischia zeigte
sich wieder einmal von seiner schönsten Seite. Schon am frühen Vormittag schien
die Sonne von einem strahlend blauen Himmel, der leichte Wind auf der Insel im
Golf von Neapel brachte eine willkommene Erfrischung in der sommerlichen Hitze.
Wie an jedem Tag herrschte am Hafen von Ischia Porto ein permanentes
Kommen und Gehen. Die großen Autofähren, die von Neapel und Pozzuoli
nach Ischia herüberfuhren, brachten nicht nur zahlreiche Urlauber mit
sich, sondern auch viele Laster, die die Versorgung der Insel mit Lebensmitteln
und anderen Gütern des täglichen Bedarfs sicherstellten. Die nächste Fähre nach
Pozzuoli sollte in wenigen Minuten auslaufen, alle wartenden Autos waren
bereits im Bauch des stählernen Kolosses verschwunden. Zum Schluss wurden zwei
Reisebusse und drei Laster rückwärts hineinrangiert, damit sie am Hafen in Pozzuoli
die Fähre als erstes wieder verlassen konnten. Im Gegensatz zu den Fähren
hatten die Schnellboote tagsüber praktisch nur Touristen an Bord. Während die
Ischitaner, die in Neapel ihrer Arbeit nachgingen, in der Früh längst mit einem
Aliscafo zum Festland gefahren waren, tummelten sich am Vormittag nur
ankommende und abreisende Urlauber sowie Tagesausflügler an dem runden
Hafenbecken, das ursprünglich der Krater eines längst erloschenen Vulkans war.
Max
Hartinger, der in Rosenheim als Kommissar bei der Kripo arbeitete, und seine
Frau Chiara hatten zehn wunderschöne Urlaubstage auf Ischia hinter sich.
Chiara, eine gebürtige Römerin, war bereits als Kind mit ihrer Familie regelmäßig
auf der Insel gewesen, um dort den Urlaub zu verbringen. Nachdem sie ihren Mann
kennen gelernt und dann mit ihm eine eigene Familie hatte, war sie weiterhin
immer wieder nach Ischia gereist, nicht nur, weil ihr einziger Bruder
Francesco mit einer Ischitanerin verheiratet und schon seit mehr als dreißig
Jahren in Ischia Porto als Carabiniere stationiert war. Schon
öfter hatten Max und Chiara von Ischia aus einen Tagesausflug nach Capri
unternommen. Nun warteten sie, mit der Chiesa Santa Maria di Portosalvo
im Rücken, an der Anlegestelle für die Ausflugsschiffe, die die Urlauber jeden
Dienstag, Donnerstag und Sonntag nach Capri und Amalfi brachten.
An diesem schönen Juni-Dienstag standen sie allerdings mit Gepäck für mehrere
Tage am Anleger. Sie wollten eine Nacht auf Capri verbringen, sich am
Abend des zweiten Tages mit einem Freund von Max treffen und an Bord seiner
Yacht gehen, um im Golf von Neapel und entlang der Amalfi-Küste den
Sommer einige Tage auf dem Wasser zu genießen. Danach wollten sie noch einmal
für zwei Tage nach Ischia zurückkehren, weshalb sie auch einen Teil
ihres Gepäcks bei Francesco und seiner Frau Giulia zurückgelassen hatten.
„Eigentlich
sollte unser Schiff längst da sein“, stellte Max mit einem Blick auf seine Uhr
fest.
Chiara lachte
laut los.
„Max, nach
so vielen Jahren solltest du eigentlich wissen, dass man einen italienischen
Fahrplan nicht allzu ernst nehmen sollte. Außerdem kann es bei zwei
Zwischenstopps schon einmal zu ein paar Minuten Verspätung kommen.“
Das
Ausflugsschiff der Capitan Morgan Schifffahrtsgesellschaft startete im Westen
der Insel in Forio, nahm an der Nordküste in Lacco Ameno und Casamicciola
weitere Fahrgäste auf, um dann nach dem letzten Halt in Ischia Porto auf
direktem Weg über den Golf von Neapel nach Capri zu fahren. An diesem
Vormittag passierte das weiß-blaue Schiff Freccia del Golfo mit einer
Viertelstunde Verspätung den kleinen rotbraunen Leuchtturm an der Hafeneinfahrt
von Ischia Porto. Im Hafenbecken steuerte der Kapitän direkt auf den
Anleger zu, stoppte sein Schiff kurz davor, drehte es um einhundertachtzig Grad
und fuhr rückwärts bis zur Kaimauer. Sobald das Schiff nahe genug an der Mauer
war, wurden zwei dicke Taue an Land geworfen und an massiven Eisenpollern
befestigt. Dann wurde der schmale Alu-Steg vom Heck heruntergelassen, ein
Besatzungsmitglied ging von Bord und blieb direkt neben dem Steg stehen, um von
allen zusteigenden Passagieren die Fahrkarten zu kontrollieren.
„Am
Oberdeck sind offenbar schon alle Plätze belegt“, bedauerte Max, als er mit
Chiara in der Warteschlange hinter einigen anderen Fahrgästen stand und
wartete, auch an Bord gehen zu können.
„Sieh es
positiv, Max, dann brauchen wir unser Gepäck wenigstens nicht über die steile Treppe
nach oben schleppen. Außerdem kennen wir die Strecke nach Capri doch
schon zur Genüge.“
Das
Unterdeck der Freccia del Golfo bestand fast vollständig aus einer
klimatisieren Schiffskabine, nur am Heck waren außerhalb der Kabine noch ein
paar Sitzplätze im Freien vorhanden. Max machte gar nicht erst den Versuch, am
offenen Oberdeck noch nach zwei freien Plätzen zu suchen, er trug ihr Gepäck
direkt in die Kabine hinein. Chiara, die vor ihm ging, nahm sofort drei freie
Plätze direkt am Fenster auf der rechten Seite des Schiffes in Beschlag. Max
hob einen der kleinen Koffer auf den äußersten der drei Plätze, wartete, bis
Chiara direkt am Fenster Platz genommen hatte, zog dann den zweiten Koffer
hinter sich in den Fußraum vor dem anderen Koffer und setzte sich auf den Platz
neben seiner Frau.
„Hier auf
der rechten Seite sehen wir wenigstens noch etwas von der Insel.“
„Ich wäre
trotzdem lieber im Freien gesessen“, antwortete Max etwas mürrisch.
„Ach, mein
alter Brummbär“, lachte Chiara. „In der nächsten Woche kannst du doch noch zur
Genüge im Freien sitzen, wenn wir mit Emilios Yacht unterwegs sind.“
Als sich
das Schiff in Bewegung setzte, drehte sich Chiara sofort zum Fenster. Auf der
rechten Seite des Hafenbeckens reihte sich ein Ristorante an das andere,
am frühen Vormittag waren die vielen Tische im Freien aber noch alle leer.
Hinter der schmalen Hafeneinfahrt drehte der Kapitän sofort scharf nach rechts,
fuhr an den Stränden von Ischia Porto und Ischia Ponte vorbei und
meldete sich währenddessen über das Bordmikrofon, um die in Ischia Porto
zugestiegenen Fahrgäste zu begrüßen. Danach machte er alle darauf aufmerksam,
dass sie gerade am Wahrzeichen von Ischia, dem mächtigen Castello
Aragonese, das auf einem riesigen, der Insel vorgelagerten Festungsfelsen
thront, vorbeifuhren. Er wünschte eine gute Fahrt und wies darauf hin, dass
sich eine Reiseleiterin in Kürze übers Mikro melden würde, um die verschiedenen
Ausflugsmöglichkeiten auf Capri vorzustellen. Nachdem sie das Castello
passiert hatten, lehnte sich Chiara auf ihrem Sitz zurück, denn für die nächste
Dreiviertelstunde blieb nur noch der Blick auf das tiefblaue Meer. Max
versuchte, auf seinem Smartphone eine deutsche Nachrichtenseite aufzurufen, der
Empfang auf dem Schiff war aber mäßig, sodass es sehr lange dauerte, bis sich
die Seite überhaupt öffnete. Deswegen überflog er nur kurz die Schlagzeilen und
verzichtete darauf, einzelne Artikel zu öffnen.
„Das kann
ich später auf Capri auch noch machen“, sagte er zu sich selbst.
Kaum hatte
er sein Smartphone weggesteckt, erklang, wie vom Kapitän angekündigt, die
Stimme der Capitan Morgan-Reiseleiterin übers Bordmikro. Zuerst erzählte sie
auf Italienisch, dann auch noch auf Deutsch und Englisch, welche
Ausflugsmöglichkeiten auf Capri angeboten wurden, wie die einzelnen
Touren aussahen und zu welchem Preis man sie gleich an Bord buchen konnte. An
erster Stelle stand natürlich die Bootsfahrt vom Hafen Marina Grande zur
Grotta Azzurra, der Blauen Grotte, die meistbesuchte Sehenswürdigkeit
von Capri. Außerdem wurde eine Insel-Rundfahrt mit dem Boot angeboten,
ebenfalls mit einem Stopp an der Blauen Grotte. Die dritte Ausflugsmöglichkeit
war eine Tour mit dem Bus von Marina Grande hinauf nach Anacapri
inklusive einer Führung in der vom berühmten schwedischen Arzt und
Schriftsteller Axel Munthe erbauten Villa San Michele.
„Max, was
hältst du davon, wenn wir heute auch nach Anacapri rauffahren? Es ist
doch schon ewig her, dass wir uns die Villa San Michele angeschaut haben
und bei der klaren Sicht müsste der Blick von dort oben heute besonders schön
sein.“
„Das können
wir gerne machen. Vielleicht haben wir Glück und unser Hotelzimmer ist bereits
frei.“
„Wenn
nicht, dann ist es doch auch kein Problem, unser Gepäck können wir sicher schon
an der Rezeption abgeben, damit es eingesperrt wird, bis wir einchecken
können.“
Max und
Chiara hatten noch keine konkreten Pläne für die zwei Tage auf Capri
gemacht. Sie wollten den schlimmsten Touristenströmen möglichst aus dem Weg
gehen, auch wenn das meistens sehr schwierig bis fast unmöglich war. Am meisten
freuten sie sich darauf, die Insel auch einmal abends und morgens zu erleben,
wenn die unzähligen Tagestouristen abgereist waren und am anderen Tag noch
keine neuen über die Insel hergefallen waren. Viele Capri-Reisende, vor
allem aber die Capresen selbst, waren der Meinung, dass man die wahre Schönheit
der Insel nur erleben konnte, wenn am frühen Abend das letzte Schiff mit den
Tagesausflüglern am Hafen von Marina Grande abgelegt hatte. Für die eine
Übernachtung auf der Insel hatten sich Max und Chiara ein Zimmer in einem
kleinen Hotel in Capri Stadt reserviert. Das war ein guter Ausgangspunkt
für viele der Sehenswürdigkeiten, die die Insel bot. Je nach Lust und Laune
wollten sie spontan entscheiden, was sie unternehmen würden.
„Die Villa
Jovis würde mich auch interessieren, dorthin könnten wir morgen gleich nach
dem Frühstück wandern, wenn es noch nicht so heiß ist“, schlug Max vor und
Chiara nickte zustimmend.
„Wir haben
sie uns einmal angesehen, als Francesco und ich noch Kinder waren, seitdem war
ich nicht mehr dort.“
Die Villa
Jovis lag auf dem Monte Tiberio ganz im Osten der Insel mit einem
grandiosen Ausblick auf die Halbinsel von Sorrent, den Golf von Neapel und
natürlich den Vesuv. Kaiser Tiberius hatte sie um das Jahr siebenundzwanzig
nach Christus errichten lassen, als er seinen Amtssitz von Rom nach Capri verlegte
und dann die letzten zehn Jahre seines Lebens auf der Insel verbrachte. Während
seiner Zeit auf Capri wurde Jesus in Jerusalem gekreuzigt. Tiberius war
wegen seiner Grausamkeiten gefürchtet. Immer wieder soll er diejenigen
Personen, die er aus dem Weg räumen wollte, in seine Villa zum Essen
eingeladen haben, anschließend ließ er sie von einem Felsvorsprung, bei dem es
circa vierzig Meter senkrecht nach unten geht, in die Tiefe, ins Meer stürzen.
Die steile Felswand wird noch heute Salto di Tiberio, Tiberius-Sprung,
genannt.
Während Max
darüber nachdachte, was sie sich noch alles ansehen könnten, ging die
Reiseleiterin von Sitzreihe zu Sitzreihe und versuchte, die noch
unentschlossenen Touristen dazu zu bewegen, einen der drei Ausflüge zu buchen.
Wer sich dafür entschied, musste sofort bezahlen und bekam dann je nach
Ausflugsart einen farbigen Punkt aufs T-Shirt oder die Bluse geklebt, damit man
in dem Getümmel der Touristen in Marina Grande später besser feststellen
konnte, wer zu welcher der drei Gruppen gehörte.
„Sie
bleiben wohl länger auf Capri“, meinte die Reiseleiterin mit Blick auf
das neben Max stehende Gepäck. „Möchten Sie vielleicht gleich heute einen
schönen Ausflug machen?“
„Vielen
Dank. Die Villa San Michele und die Blaue Grotte kennen wir schon und
eine Insel-Rundfahrt können wir ab morgen selbst machen, weil wir da für ein paar
Tage an Bord einer Yacht gehen.“
„Das hört
sich doch wunderbar an. Dann wünsche ich Ihnen ein paar schöne Tage.“
„Vielen
Dank.“
Als sich
Max zu Chiara umdrehte, sah er, dass sie die Augen geschlossen hatte, offenbar
war sie eingenickt. Das gleichmäßige, monotone Brummen der Schiffsmotoren sowie
der praktisch nicht vorhandene Wellengang konnten schon dazu beitragen, dass
man einschlummerte. Max wollte aber nicht schlafen, er stand auf und ging zum
offenen Heck hinaus. Dort konnte er, wenn er sich leicht über die seitliche
Reling beugte, sehen, wie Capri näher und näher kam. Trotz des mäßigen
Handy-Empfangs schrieb er seinem Freund Emilio eine kurze WhatsApp-Nachricht,
dass sie bald in Marina Grande ankommen würden. Emilio antwortete
sofort.
„Wir lagen
gestern in Marina di Camerota vor Anker, gerade sind wir beim Capo
Palinuro. Die Cilento-Küste ist traumhaft schön. Ich freue mich auf
morgen.“
Max hatte
Emilio Brentani einige Jahre zuvor in Lazise am Gardasee kennen gelernt.
Im Rahmen eines EU-weiten Programms zur Verbesserung der inneren Sicherheit
sollte damals ein bayerischer Kriminaler für vier Wochen mit einem
italienischen Carabinere den Arbeitsplatz tauschen. Nicht nur im
Rosenheimer Polizei-Präsidium, sondern bis in die Führungsspitze der
bayerischen Polizei war bekannt, dass Max bei seinen vielen Italien-Urlauben
immer wieder in italienische Kriminalfälle hineingestolpert war und jeweils
einen großen Anteil daran gehabt hatte, dass diese teils spektakulären Fälle
gelöst werden konnten. Deswegen wurde er ausgewählt, um zum ersten Mal ganz
offiziell in Italien zu ermitteln. Da Lazise seit 1979 eine Partnerstadt
von Rosenheim ist, lag es nahe, Max im Rahmen des Austauschprogramms dorthin zu
schicken. Im Gegenzug kam einer der Carabiniere von Lazise nach
Rosenheim und nahm für vier Wochen den Platz von Max ein. Maresciallo
Emilio Brentani war damals bereits der Leiter der Carabinieri-Einheit
von Lazise und somit für vier Wochen der Vorgesetzte von Max. Bei der
gemeinsamen Arbeit an einem schwierigen, undurchsichtigen Vermisstenfall
lernten sie sich nicht nur gegenseitig schätzen, sie freundeten sich auch an.
Auch Chiara, die Max natürlich am Gardasee besuchte, verstand sich auf Anhieb
sehr gut mit Emilio, deswegen waren sie nach der Rückkehr von Max nach
Rosenheim in Kontakt geblieben und hatten sich immer wieder einmal in Italien
getroffen. Emilio und seine Frau Elisabetta hatten Max und Chiara auch schon in
Rosenheim besucht. Diese Reise nach Bayern hatte Emilio bewusst in die Zeit des
Münchner Oktoberfestes gelegt, weil er die Münchner Wiesn, von der ihm schon
viele italienische Landsleute vorgeschwärmt hatten, auch einmal live erleben
wollte. Auf der Fahrt von Rosenheim nach München musste Max natürlich erzählen,
wie er und Chiara sich auf dem Oktoberfest zum ersten Mal begegnet waren. Max,
damals siebenundzwanzig, war mit seinem besten Freund unterwegs gewesen, um
über die Trennung von seiner Freundin hinwegzukommen. Chiara, zwei Jahre jünger
als Max, hatte mit einer Studienfreundin, die wie sie an der Universität La
Sapienza in Rom Germanistik studiert hatte, ein paar Tage in München
verbracht. Im Gedränge zwischen den Schaustellerbuden kam es zu dem
folgenreichen Zusammenstoß von Chiara und Max, bei dem es bei beiden sofort
gefunkt hatte. Keine zwei Jahre später läuteten in Oberbayern die
Hochzeitsglocken für die beiden. Im Jahr darauf kam Martina zur Welt, wiederum
zwei Jahre später war mit der Geburt von Elena die Familie komplett.
Mittlerweile hatte Martina selbst schon eine kleine Familie, der kleine
Sebastian, das erste Enkelkind von Max und Chiara, war einundzwanzig Monate
alt. Elena, die beruflich in die Fußstapfen von ihrem Vater getreten war und ebenfalls
bei der Kripo arbeitete, war inzwischen auch verheiratet. Kurz vor der Abreise
ihrer Eltern nach Ischia war sie mit ihrem Mann Carlos, einem
Deutsch-Spanier, von der Hochzeitsreise nach Mallorca, der Heimat von Carlos‘
Vater, zurückgekommen.
„Wir freuen
uns auch, dich wieder zu sehen und sind natürlich sehr gespannt auf deine Yacht.
Bis morgen“, antwortete Max auf die Nachricht von Emilio.
Danach ging
er auf seinen Platz neben Chiara zurück. Als er sich hinsetzte, schlug sie die
Augen auf.
„Gut
geschlafen, mein Schatz?“
„Richtig
geschlafen habe ich gar nicht, eher nur ein bisschen geschlummert.“
„Emilio hat
geschrieben, dass er mit seiner Yacht gerade die Cilento-Küste
entlangfährt.“
Chiara, die
auf ihrem Sitz etwas nach unten gerutscht war, setzte sich abrupt auf.
„Das wäre
doch auch etwas für uns. Anstatt hier im Golf von Neapel herumzufahren, wo wir
ohnehin schon sehr viel kennen, könnten wir doch gleich die Costiera
Amalfitana entlangfahren und von dort über den Golf von Salerno
weiter Richtung Süden.“
„Von mir
aus gerne. Allerdings weiß ich nicht, was Emilio schon konkret geplant oder
vielleicht sogar bereits fix gebucht hat. Aber wenn er einverstanden ist,
spricht nichts gegen die Cilento-Küste.“
Mittlerweile
sahen sie auch von ihrem Sitzplatz aus ihr Ziel rasch näherkommen. Im Hafen Marina
Grande lagen bereits einige Schiffe, die Tagesausflügler nach Capri
brachten, vor Anker. Auf der Freccia del Golfo wurden die ersten
Passagiere unruhig, ein älteres Ehepaar war sogar schon vom Oberdeck zum Heck
des Schiffes heruntergekommen, um als erstes von Bord gehen zu können. Auf den
Plätzen vor Max und Chiara wurden bereits die ersten Caps oder Strohhüte
aufgesetzt und ein paar Rucksäcke vom Fußboden auf die Knie hinaufgehoben, um
bei der Ankunft das Schiff schnell verlassen zu können. Aber auf dem Wasser
täuschte die Entfernung etwas, es dauerte noch fast eine Viertelstunde, bis die
Freccia del Golfo im Hafen Marina Grande anlegte. Max und Chiara
ließen sich von der Hektik nicht anstecken, Max trug die Koffer von Bord und
zog erst dann die beiden Teleskopgriffe heraus, um die Koffer hinter sich her
ziehen zu können. Zuerst mussten sie sich erst einmal einen Weg durch das
Getümmel der Touristen bahnen, schnell vermischten sich die Ankömmlinge von der
Freccia del Golfo mit anderen, gerade angekommenen Touristen, während
die Capitan Morgan-Reiseleiterin versuchte, ihre drei Ausflugsgruppen zusammen
zu bringen. Wie hungrige Raubtiere stürzten sich auch einige Einheimische auf
die nächste Touristen-Lieferung. Die einen versuchten, gleich Kundschaft für
ihre Taxis zu bekommen, andere wollten die Touristen sofort auf eines der Boote
zur Blauen Grotte schleusen und wieder andere baten ihnen einen Platz in ihren
umliegenden Cafés und Ristoranti an. Max und Chiara ließen alles an sich
abprallen und waren froh, als sie dem ersten Trubel entkommen waren. Sie
marschierten die Via Cristoforo Colombo entlang, rechts lagen
Fischerboote im seichten Wasser oder am flachen Ufer, links reihte sich ein
Souvenirladen an den nächsten, dazu kamen kleine Lebensmittelläden, eine
Apotheke und einige Ristoranti. Zwischen zwei Bars befand sich, leicht
zu übersehen, der Zugang zur Funicolare. Dort blieb Max stehen und
stellte die beiden Koffer neben Chiara.
„Bleib du
hier, ich hole uns schnell die Tickets.“
Schräg
gegenüber, neben einem ockergelben Gebäude, in dem die Capitaneria del Porto
sowie die Guardia Costiera ihren Sitz hatten, war der zentrale Ticketverkauf,
bei dem man an verschiedenen Schaltern nicht nur Fahrkarten für die diversen
Schiffsverbindungen oder alle Buslinien auf Capri bekam, sondern auch
die Fahrkarten für die Funicolare.
Die Funicolare
ist eine Standseilbahn, die den Hafen Marina Grande mit Capri
Stadt verbindet. Zwischen Gärten und Zitronenhainen überwindet die eingleisige
Bahn einhundertzweiundvierzig Höhenmeter, nur in der Mitte der Strecke gibt es
eine Ausweichstelle, an der sich die gleichzeitig nach oben und unten fahrenden
Züge begegnen. Erbaut wurde sie 1907.
Auf der
Insel waren nur Busse, Taxis und die Capresen selbst mit ihren eigenen Autos
unterwegs, Touristen konnten keine Autos mit auf die Insel bringen, dafür war
schlicht und ergreifend kein Platz, deswegen waren alle, die nicht den ganzen
Tag zu Fuß unterwegs sein wollten, auf die Busse und Taxis angewiesen. Die
meisten aber, die erst einmal nach Capri hinauf wollten, nahmen die Funicolare.
Die Schlange vor dem Ticketschalter hielt sich an diesem Tag noch in Grenzen,
Max musste nicht lange warten, bis er die beiden Einzelfahrkarten kaufen
konnte. Als er sich umdrehte und zu Chiara zurückging, fiel ihm ein Mann auf,
der so gar nicht in die Szenerie passte. Er machte einen ungepflegten Eindruck,
der Vollbart war zerzaust, das T-Shirt und die kurzen Hosen nicht gerade sauber.
Es handelte sich eindeutig um keinen Touristen, aber offenbar auch nicht um
einen Capresen, der sein Geld mit dem Tourismus verdiente. Er schlenderte die Via
Cristoforo Colombo entlang und blickte neugierig umher. Max blieb
instinktiv stehen, um ihn weiter zu beobachten. Dieser kurze Halt brachte dem
Bärtigen allerdings einen entscheidenden Vorsprung. Denn plötzlich lief er
völlig überraschend los und Max wurde sofort klar, dass er es auf Chiara
abgesehen hatte. Selbst auch loslaufend rief er noch „Chiara! Achtung!“, aber
seine Warnung kam zu spät. Bevor sie reagieren konnte, hatte der Bärtige sie
erreicht, riss ihr die Handtasche vom Arm, drehte sich um und lief in Richtung
Schiffsanleger davon. Wahrscheinlich wollte er im Getümmel der Touristen untertauchen,
aber er hatte Max, wenn er ihn vorher überhaupt richtig wahrgenommen hatte,
unterschätzt. Max rannte ihm hinterher, an der schreienden Chiara vorbei, und
hatte ihn trotz seines Übergewichts und seiner nicht gerade berauschenden
Kondition schon nach wenigen Metern eingeholt. Er bekam ihn am Ärmel des
T-Shirts zu packen, der Handtaschenräuber versuchte sich loszureißen, kam
dadurch ins Straucheln, stolperte und fiel mit dem linken Knie voraus auf die
gepflasterte Straße. Max, der das T-Shirt loslassen musste, als der Dieb
hinfiel, stürzte sich sofort auf ihn, packte ihn und drehte ihm den linken Arm
auf den Rücken. Die Touristen in nächster Nähe hatten natürlich beobachtet, was
passiert war, durch den Schmerzensschrei des am Boden liegenden Diebs wurden
aber auch die Gäste der Bar, die direkt neben dem Eingang zur Funicolare
liegt, darauf aufmerksam, dass mitten auf der Straße etwas Ungewöhnliches
passierte. Sofort scharten sich immer mehr Touristen um Max und den Dieb und
aus ihrem zum Teil lautstarken Rufen war herauszuhören, dass einige davon
ausgingen, dass Max der Bösewicht und der Bärtige das Opfer war. Inzwischen
stand auch Chiara mit ihrem Gepäck neben den beiden.
„Gut, dass
du so schnell reagiert hast, Max.“
Im selben
Augenblick kam der Kellner der Bar dazu, um nachzusehen, was auf der Straße vor
sich ging.
„Könnten
Sie bitte die Carabinieri rufen“, bat ihn Chiara.
Ohne
nachzufragen zog der Kellner sein Handy aus der Hosentasche und kam der Bitte
von Chiara nach. Offenbar war es schon öfter notwendig gewesen, bei den Carabinieri
anzurufen, denn die Nummer war ganz offensichtlich eingespeichert gewesen. Nach
einem kurzen Wortwechsel steckte der Kellner sein Handy wieder in die Tasche.
„Die sind
in ein paar Minuten da. Kann ich Ihnen helfen, Signora?“
„Hätten Sie
bitte ein Glas Wasser für mich?“
„Natürlich,
kommt sofort.“
Er drehte
sich um und ging in die Bar hinein. Unterdessen stieß der Handtaschenräuber
immer wieder kurze Schreie aus, verwünschte Max und beschimpfte ihn. Der ließ
sich davon aber nicht beeindrucken, denn solange er den Dieb mit dem auf den
Rücken gedrehten Arm fest im Griff hatte, konnte sich dieser nicht aus seiner
Zwangslage befreien. Einige der um sie herumstehenden Touristen entfernten sich
schon wieder, sie erwarteten offenbar nicht, dass hier noch etwas Spektakuläres
passieren würde. Die meisten hatten mitbekommen, dass der Kellner bei den Carabinieri
angerufen hatte, trotzdem wurde die Menschenmenge um Max herum immer größer,
weil alle Tagestouristen, die zur Funicolare oder zur zentralen
Bushaltestelle neben dem Ticketschalter wollten, an ihm vorbeigehen mussten.
Fast jeder, der neu dazukam, fragte in die Menge hinein, was da passiert sei.
Das Gemurmel der Schaulustigen wurde noch größer, als man plötzlich das rasch
lauter werdende Martinshorn des Einsatzwagens der Carabinieri hören
konnte.
„Wenn die
so schnell da sind, dann waren sie wahrscheinlich gerade nicht unterwegs,
sondern in der Stazione“, mutmaßte der Kellner, der neben Chiara stehen
geblieben war, nachdem er ihr ein großes Glas Wasser gebracht hatte.
Chiara
trank das Glas hastig leer und gab es dem Kellner zurück. Er schüttelte sofort
mit dem Kopf, als sie ihn fragte, was er für das Wasser bekäme.
„Das geht
aufs Haus, Signora. Ich würde mich freuen, wenn wir Sie und Ihren Mann
in den nächsten Tagen einmal bei uns begrüßen könnten.“
„Grazie mille.
Wir sind zwar nur bis morgen auf der Insel, aber wir kommen natürlich gerne
einmal vorbei.“
Auf der
Höhe der Capitaneria del Porto geht die Via Cristoforo Colombo in
die Via Marina Grande über, die sich mit Spitzkehren und langgezogenen
Kurven hinauf nach Capri schlängelt. Kurz vor der Ortsgrenze von Capri
liegt das Comando Stazione CarabinieriCapri, wobei sowohl die
Einheimischen, als auch die Carabinieri selbst immer nur von der Stazione
sprechen. Die diensthabenden Carabinieri hatten es also nicht sehr weit
bis zum Tatort in Marina Grande. Das Martinshorn wurde immer lauter,
dann war der dunkelblaue Fiat mit den großen, weißen Carabinieri-Schriftzügen
an den Türen auch schon auf der letzten Spitzkehre hinunter zur Via
Cristoforo Colombo zu sehen. Die Touristen gingen schleunigst zur Seite,
als der Fiat Panda mit deutlich reduziertem Tempo durch die Menge fuhr
und direkt neben Max und Chiara anhielt. Zwei jüngere Carabinieri
stiegen aus, beide waren sehr groß. Der Fahrer des Fiat war offenbar der
ältere der beiden, er schien sehr durchtrainiert, für seine starken Oberarme
war das blaue Hemd fast zu eng. Sein Kollege dagegen war schlank und hatte
kantige Gesichtszüge, die trotzdem noch sehr jugendlich wirkten. Max sah an der
Uniform sofort, dass der Fahrer den Dienstgrad des Vice Brigadiere hatte
und sein Kollege Appuntato war.
„Buongiorno
Vice Brigadiere, der Kerl hier hat meiner Frau die Handtasche geklaut“,
erzählte Max, bevor einer der Carabinieri überhaupt etwas gesagt hatte.
„Buongiorno“,
erwiderte der Fahrer. „Ich bin Vice Brigadiere Nino Moiano, das ist mein
Kollege, Appuntato Agostino Corsano. Stehen Sie bitte erst einmal auf.“
Max erhob
sich langsam, gefasst darauf, noch einmal zuzupacken, falls der Dieb versuchen
sollte, zu fliehen. Der aber drehte sich erst einmal vom Bauch auf den Rücken,
wobei Chiaras Tasche zum Vorschein kam, und setzte sich auf. Zuerst
begutachtete er sein blutverschmiertes Knie, dann stand auch er langsam auf.
Sofort griff Chiara nach ihrer Tasche.
„Das ist
meine“, sagte sie energisch. „Ich stand dort drüben beim Eingang zur Funicolare,
da kam der Kerl von hinten und hat sie mir vom Arm gerissen, Vice Brigadiere.
Zum Glück war mein Mann in der Nähe und konnte verhindern, dass er damit
abhaut.“
Unterdessen
hatte Max seinen Dienstausweis von der Kripo in Rosenheim aus seinem Geldbeutel
hervorgeholt und hielt ihn dem Vice Brigadiere unter die Nase.
„Ich
arbeite in Bayern bei der Kriminalpolizei, wir sind also sozusagen Kollegen.“
Der Vice
Brigadiere zog überrascht die Augenbrauen hoch und nickte dann, als er
einen Blick auf den Dienstausweis geworfen hatte.
„Signori,
ich schlage vor, wir fahren jetzt zur Stazione rauf und besprechen dort
alles weitere, dann halten wir hier den Betrieb nicht weiter auf.“
Der
Einzige, der wenig erfreut war, nun in einem Carabinieri-Dienstwagen
mitfahren zu müssen, war der bärtige Dieb. Appuntato Corsano öffnete die
Beifahrertür, ließ Chiara einsteigen und verstaute das Gepäck von ihr und ihrem
Mann im Kofferraum. Er musste die Heckklappe einmal kräftig zudrücken, bis das
Schloss einrastete. Dann quetschten er und Max sich auf die Rückbank des
kleinen Fiat Panda und nahmen dabei den Dieb in die Mitte, damit er
während der kurzen Fahrt keine Dummheiten machen konnte. Zum Glück waren Corsano
und der Dieb sehr schlank, wenn alle drei so eine Figur wie Max gehabt hätten,
dann wären die Türen wahrscheinlich nicht mehr zugegangen. Vice Brigadiere
Moiano wendete den Fiat und fuhr das kurze Stück zur Stazione
hinauf.
Der
niedrige, beige Bau der Stazione lag hinter einer engen Kurve auf der
linken Seite der Via Marina Grande, die Ortsgrenze von Capri war
nur noch ungefähr zweihundert Meter entfernt. Direkt gegenüber war eine kleine
Feuerwache. Die Straße war so eng, dass es auf beiden Straßenseiten nur wenige
Parkmöglichkeiten gab. Moiano wendete und musste dann seine Mitfahrer erst
aussteigen lassen, damit er den Fiat Panda ganz eng an der Hausmauer
abstellen konnte. Nachdem auch er ausgestiegen war, ging Moiano voraus in die Stazione
hinein, direkt in einen großen Besprechungsraum, wo er Max, Chiara und den
Bärtigen an dem in der Mitte stehenden Tisch Platz nehmen ließ. Er wartete
solange, bis Corsano sein Notebook aus seinem Büro geholt hatte und setzte sich
zusammen mit ihm ebenfalls an den Tisch. Dann wandte er sich zuerst an den
Bärtigen.
„Können Sie
sich ausweisen?“
Der Dieb
nickte stumm, fingerte in seiner Hosentasche herum und zog dann einen kleinen,
ziemlich ramponierten Geldbeutel hervor, in dem sein Ausweis steckte. Wortlos
reichte er seinen italienischen Personalausweis, der wie in Deutschland im
Scheckkartenformat ausgestellt wird, über den Tisch. Moiano warf einen kurzen
Blick darauf, las nur den Namen Bruno Arenaccia und den Wohnsitz Marina
Grande, dann gab er den Ausweis an seinen Kollegen weiter, der die Daten
sofort in das Protokoll auf seinem Notebook eingab.
„Also, Signor
Arenaccia“, begann der Vice Brigadiere. „Sie haben in Marina Grande
gehört, was uns die Signora über den Vorfall am Eingang zur Funicolare
erzählt hat. Was haben Sie dazu zu sagen?“
Arenaccia
zuckte mit den Schultern.
„Was soll
ich dazu schon sagen?“
„Haben Sie
der Signora die Handtasche vom Arm gerissen oder nicht?“
Nach kurzem
Zögern nickte Arenaccia.
„Es ist
schon eine ziemlich blöde Idee, ausgerechnet der Frau von einem Commissario die
Tasche klauen zu wollen, noch dazu, wenn der Commissario auch noch ganz
in der Nähe ist.“
Bruno
Arenaccia starrte Max mit offenem Mund an, sagte aber nichts. Er reagierte
erst, als ihm Corsano seinen Personalausweis zurückgab. Schnell steckt er ihn
wieder in seinen Geldbeutel, als ob er Angst haben müsste, dass ihm einer der
Anwesenden seinen Ausweis ganz wegnehmen könnte. Corsano fragte ihn
anschließend noch nach einigen persönlichen Angaben, die nicht auf dem Ausweis
zu finden waren und tippte alle Daten in sein Notebook.
„Commissario,
die Ausweise von Ihnen und Ihrer Frau bräuchte ich jetzt auch noch.“
Max war
darauf vorbereitet gewesen und hatte deswegen seinen Personalausweis bereits in
der Hand gehabt. Während Corsano die Daten von Max erfasste, holte Chiara ihren
Ausweis aus der Handtasche und schob ihn Corsano über den Tisch. Der Appuntato
war überrascht, als er von ihr auch einen italienischen Personalausweis
bekam, sagte aber nichts dazu.
„Haben Sie
schon nachgesehen, ob etwas aus Ihrer Tasche fehlt, Signora?“, fragte
Moiano, während Corsano weiter tippte.
„Es ist
noch alles drin, aber die Tasche ist leider ruiniert.“
Demonstrativ
stellte sie ihre Handtasche auf den Tisch. Durch den Sturz von Arenaccia auf
die Tasche war das dunkle Leder auf einer Seite durch mehrere tiefe Kratzer
erheblich beschädigt.
„Für den
Schaden muss Signor Arenaccia selbstverständlich aufkommen.“
„Hätte der
sich nicht auf mich gestürzt, dann wäre der Tasche auch nichts passiert“,
schimpfte Arenaccia los und deutete vorwurfsvoll auf Max.
„Hätten Sie
seiner Frau die Tasche vorher nicht geklaut, dann hätte der Commissario
sich auch nicht auf Sie stürzen müssen. Ich denke, der Sachverhalt ist
eindeutig geklärt, nun müssen Sie eben die Konsequenzen für Ihr Handeln
tragen.“
Da er sich
mit Arenaccia auf keine Diskussion einlassen wollte, stand der Vice
Brigadiere auf und verließ den Besprechungsraum. Wegen des
Handtaschenraubes konnte er ihn nicht verhaften, bevor er ihn wieder laufen
lassen musste, wollte er sich noch seine eventuell vorhandenen Vorstrafen ansehen.
In seinem kleinen Büro gab er Bruno Arenaccias Daten in die Erfassungsmaske
eines zentralen Registers ein und bekam sofort einige Delikte angezeigt.
Bereits der jugendliche Bruno war immer wieder mit Schlägereien auffällig
geworden, später war er mehrfach beim Ladendiebstahl erwischt worden.
Mittlerweile war er achtunddreißig und offenbar schon länger arbeitslos.
„Ein
typischer Kleinkrimineller, der ständig knapp bei Kasse ist“, dachte sich
Moiano.
Da gegen
Arenaccia aktuell außer dem Handtaschenraub nichts vorlag, gab es für den Vice
Brigadiere keinen Grund, ihn in eine der beiden Einzelzellen zu stecken,
die es in der Stazione gab. Als er in den Besprechungsraum zurückkam,
hatte Corsano das Protokoll bereits fertiggestellt. Der Appuntato hatte
schon auf seinen Kollegen gewartet, damit er in seinem Büro das Notebook an den
Drucker anschließen und das Protokoll ausdrucken konnte. Mit dem Ausdruck, den
nicht nur Arenaccia, sondern auch Max und Chiara unterschreiben mussten, ging
er dann in den Besprechungsraum zurück. Der Vice Brigadiere war gerade
dabei, Arenaccia zu erklären, dass er ihn wieder laufen lassen würde.
„Für uns
ist die Arbeit abgeschlossen, aber wir müssen den Vorfall natürlich an die
zuständigen Justizbehörden weitergeben, die gegebenenfalls noch einmal auf Sie
zukommen werden.“
Arenaccia
hörte wieder nur stumm zu und zeigte keine Regung. Nachdem alle drei das
Protokoll unterschrieben hatten, wandte sich Moiano an Chiara.
„Wie viel
hat Ihre neue Handtasche denn gekostet?“
„Einhundertzwanzig
Euro.“
„Signor
Arenaccia, Sie haben es gehört. Wie gedenken Sie, der Signora den
Schaden zu ersetzen?“, spielte der Vice Brigadiere den Ball dem Dieb zu.
„Wenn ich
einhundertzwanzig Euro hätte, dann hätte ich sicher nicht versucht, die Tasche
zu stehlen. Aber vielleicht habe ich demnächst wieder etwas Geld, dann kann ich
die einhundertzwanzig Euro bezahlen.“
Zum ersten
Mal hatte Arenaccia, wenn auch nur kurz, ein Lächeln auf dem Gesicht. Chiara
bat Corsano um einen Zettel und einen Stift. Der drehte sich um und holte von
einem langen Sideboard, das hinter ihm stand, einen Notizzettel sowie einen
Kugelschreiber und reichte ihr beides über den Tisch. Chiara schrieb ihren
Namen und die IBAN ihres Kontos auf, riss das Blatt vom Block und gab es
Arenaccia.
„Hier sind
meine Kontodaten.“
Bruno
Arenaccia faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in die Hosentasche.
„Kann ich
jetzt gehen?“, fragte er dann sofort.
„Ja,
natürlich“, antwortete ihm Moiano.
Arenaccia
und auch Max und Chiara standen auf. Ohne noch ein Wort zu verlieren, verließ
der gescheiterte Dieb den Besprechungsraum und die Stazione.
Max
bedankte sich bei Moiano für seine Hilfe und verabschiedete sich auch von
Corsano mit einem Handschlag.
„Ich komme
mit Ihnen hinaus, Ihr Gepäck ist doch noch in unserem Auto“, erwiderte Corsano
und ging mit Max und Chiara vors Haus.
Als sie
hinauskamen, sahen sie gerade noch, wie Bruno Arenaccia bergab ging und bereits
die erste Kurve unterhalb der Stazione erreicht hatte.
„Wenn er
wieder nach Marina Grande hinunter will, dann wäre es einfacher gewesen,
nach Capri hinauf zu laufen und die Funicolare zu nehmen, aber in
seiner Situation sind wahrscheinlich selbst die zwei Euro für die
Einzelfahrkarte schon zu viel“, mutmaßte Corsano. „Wo müssen Sie jetzt hin?“
„Wir haben
für eine Nacht ein Hotelzimmer oben in Capri gebucht“, antwortete ihm
Max.
Corsano
ließ den Griff des Kofferraumdeckels, den er bereits in der Hand gehabt hatte,
wieder los.
„Steigen
Sie ein, ich fahre Sie schnell rauf.“
„Das ist
aber nett von Ihnen, vielen Dank“, erwiderte diesmal Chiara.
Der Appuntato
rangierte den Fiat Panda von der Hauswand weg, Max ließ Chiara wieder
vorne einsteigen und zwängte sich selbst erneut auf die Rückbank. Nachdem er
Corsano den Namen des Hotels genannt hatte, fragte er ihn, wie viele Kollegen
in der Stazione arbeiten würden.
„In der
Regel sind wir zu viert, Leiter der Einheit ist Maresciallo Torca, neben
Vice Brigadiere Moiano und mir gehört auch noch Vice Brigadiere
Roncato zu unserem Team.“
„Kennen Sie
zufällig Maresciallo Francesco Bianchi in Ischia Porto?“, fragte
Chiara neugierig.
„Maresciallo
Bianchi? Persönlich kenne ich ihn nicht, aber letzten Sommer habe ich einmal
mit ihm telefoniert, als hier eine allein reisende deutsche Urlauberin einen
Kreislaufkollaps erlitt und die Sanitäter nur einen Hotelschlüssel aus Ischia
Porto bei ihr gefunden haben. Warum fragen Sie nach ihm?“
„Weil er
mein Bruder ist.“
„Ach.“
„Wir waren
jetzt eine Woche wieder einmal bei ihm und seiner Frau.“
„Dann sind
Sie mit der Arbeit der Carabinieri bestimmt bestens vertraut.“
„Ja, ja“,
seufzte Chiara übertrieben laut. „Nicht nur durch meinen Bruder, sondern auch
weil mein Mann sogar im Urlaub immer wieder einmal mit den Carabinieri
zusammenarbeitet. Er hat nämlich die Gabe, auch in Italien ständig in
Kriminalfälle hineinzustolpern und seinen Urlaub dann mit dem Ermitteln zu
verbringen, anstatt sich zu erholen.“
„Dann hoffe
ich für Sie, dass sich das Thema Ermittlungen mit dem vereitelten
Handtaschenraub für diesen Urlaub bereits erledigt hat“, lachte Corsano.
„Ihr Wort
in Gottes Ohr, Appuntato“, lachte Chiara laut mit.
Max auf der
Rückbank sagte zu all dem nichts, weil er den Erzählungen von seiner Frau gar
nicht widersprechen konnte.
Schon nach
wenigen Minuten war die Fahrt schon wieder zu Ende. Gleich nach der Ortsgrenze
von Capri führte die Via Marina Grande auf einen großen
Kreisverkehr, von dem auch die Via Provinciale Anacapri, die schmale Via
Marina Piccola sowie die Via Roma abzweigten. Anacapri war
der im Westen der Insel hoch über dem Meer gelegene Ort mit der berühmten Villa
San Michele, Marina Piccola lag an der Südküste und war ein kleiner,
exklusiver Badeort, vor dem zur Urlaubszeit unzählige Boote und Yachten auf dem
Wasser schaukelten. Die Via Roma schließlich führte ins Zentrum von Capri,
direkt zur berühmten Piazzetta, dem gesellschaftlichen Mittelpunkt der
Insel. Corsano war in die Via Marina Piccola abgebogen, das Hotel von
Max und Chiara lag nur etwa einhundert Meter hinter dem Kreisverkehr. Nachdem
der junge Carabiniere das Gepäck der beiden aus dem Kofferraum geholt
hatte, gab er zuerst Max die Hand und verabschiedete sich dann überschwänglich
von Chiara.
„Ich
wünsche Ihnen einen wunderschönen Aufenthalt auf unserer Insel. Genießen Sie
das herrliche Wetter.“
„Grazie
mille. Und natürlich auch vielen Dank fürs Herauffahren.“
„Keine Ursache.“
Corsano
stieg wieder ein, wendete den Fiat in der schmalen Hoteleinfahrt und
brauste davon.
„Dem hast
du richtig gefallen, mein Schatz.“
„Meinst
du?“
„Na hör
mal, ich hab doch gesehen, wie der dich im Auto ständig von der Seite
angeschaut hat.“
„Gut zu
wissen, dass ich sogar noch Chancen bei den jungen Männern habe“, erwiderte
Chiara schnippisch.
Damit
konnte sie Max aber nicht ärgern, im Gegenteil. Er legte seinen Arm um sie und
drückte ihr einen Kuss auf den Mund.
„Du bist
halt noch immer so knackig wie mit fünfundzwanzig.“
Beide
lachten laut los, Chiara erwiderte den Kuss, dann gingen sie Arm in Arm in ihr
Hotel hinein.