Silberhochzeit von Max und Chiara Hartinger in Rosenheim
Kapitel 2:
Anreise und erster Tag in Venedig - zufälliges Kennenlernen der Gruppe "Salvate Venezia"
Kapitel 3:
Am nächsten Morgen, als Max aufwachte, saß Chiara im
Bett und hatte sein Tablet auf den Knien. Er streckte sich zu ihr hinüber und
gab ihr einen Kuss.
„Guten
Morgen, mein Schatz.“
„Morgen,
Max.“
„Wie lange
bist du denn schon wach?“ „Noch nicht
so lange, eine Viertelstunde vielleicht. Ich habe mir gerade die Homepage von Salvate Venezia angesehen. Die beiden,
die wir gestern bei den Giardini Pubblici
an ihrem Infostand gesehen haben, heißen Alessia und Gianni und sind
anscheinend die Initiatoren der Gruppe, die derzeit sechs Leute umfasst. Es
sind anscheinend hauptsächlich Studenten, aber auch ein Rechtsanwalt ist
dabei.“
„Den können
sie vermutlich hin und wieder ganz gut brauchen.“
„Bestimmt,
vor allem wenn es darum geht, ältere Venezianer zu unterstützen, die mit den
perfidesten Mitteln aus ihren Wohnungen hinausgeekelt werden sollen, damit sie
dem Verkauf und der anschließenden Luxussanierung ihres Hauses nicht mehr im
Wege stehen. Die Wohnungen werden dann an betuchte Touristen vermietet oder das
ganze Haus gleich an ausländische Investoren verkauft.“
Max stand
auf und zog den Vorhang zur Seite.
„Heute wird
das Wetter offenbar genauso herrlich wie gestern. Aber damit es ein richtig
guter Tag wird, brauche ich erst einmal ein anständiges Frühstück.“
„Das ist
wieder typisch. Hier werden alte Leute aus ihren Wohnungen vertrieben und du
denkst nur ans Essen“, echauffierte sich Chiara so übertrieben laut, so dass leicht
herauszuhören war, dass es nicht ganz ernst gemeint war.
„Stimmt gar
nicht. Bei dir denke ich oft auch an etwas ganz anderes“, grinste er sie an.
„Sollen wir noch ein bisschen im Bett bleiben?“
„Nein,
nein“, lachte sie. „Ich will doch nicht, dass du mir hier verhungerst. Ich gehe
gleich mal duschen, damit du dann auch ins Bad kannst.“
Während
Chiara unter der Dusche stand, las Max auf seinem Tablet die Vorberichte zum
zweiten deutschen Gruppenspiel bei der Fußball-Weltmeisterschaft. Anschließend
beeilte er sich, im Bad auch schnell fertig zu werden, damit sie zum Frühstück
nach unten fahren konnten.
Nach dem
Frühstück, bei dem Max ordentlich zugelangt hatte, während Chiara sich auf ein
Müsli und etwas Obst beschränkt hatte, mussten sie noch einmal kurz in ihr
Zimmer, um ihre Sonnenbrillen, den Fotoapparat und den Reiseführer zu holen.
Direkt vor ihrer Zimmertür, die einen Spalt offen stand, war der Servicewagen
des Reinigungspersonals mit frischen Handtüchern und frischer Bettwäsche sowie
einem großen Sack für die gebrauchte Wäsche abgestellt. Sie ließen sich davon
nicht abhalten und gingen in ihr Zimmer hinein. Das Bett war bereits gemacht
und mit einer Tagesdecke zugedeckt. Aus dem Bad, dessen Tür breit offen stand,
strömte der frische Duft von Reinigungs- und Putzmitteln. Das Zimmermädchen,
eine junge Frau in weißem Kittel und mit langen dunklen Haaren, stand am
geöffneten Fenster und drehte ihnen den Rücken zu. Offenbar hatte sie Max und
Chiara nicht hereinkommen gehört. Draußen, hinter den Häusern von Dorsoduro, fuhr gerade ein riesiges
Kreuzfahrtschiff vorbei.
„Buongiorno“, sagte Max laut.
„Oh mio dio“, schrie sie auf und drehte
sich abrupt um. „Entschuldigen Sie, ich habe Sie gar nicht hereinkommen
gehört.“
Max und
Chiara starrten sie an und auch die junge Frau war sich sofort bewusst, dass
das nicht ihre erste Begegnung war.
„Aber,
aber“, stammelte Chiara. „Aber Sie sind doch Alessia von Salvate Venezia.“ „Richtig,
ich heiße Alessia Dogaletto und Sie beide waren gestern Nachmittag an unserem
Infostand an der Riva delle Sette Martiri.“
„Genau.
Leider waren Sie schon weg, als wir aus den Gardini
Pubblici zurückkamen. Aber ich habe mir vorhin Ihre Homepage angesehen und
dabei natürlich Ihren Namen gelesen.“
„Entschuldigen
Sie, dass ich hier an Ihrem Fenster stehen geblieben bin, aber ich könnte jedes
Mal die Faust in der Tasche ballen, wenn wieder eines dieser Kreuzfahrt-Monster
durch den Canale della Giudecca in
Richtung Hafen fährt.“ Max stellte
sich erst einmal etwas unwissend.
„Was stört Sie
denn daran, dass mit den Kreuzfahrtschiffen so viele Touristen nach Venedig
kommen?“
„Die Touristen
an sich stören mich nicht. Viele Passagiere der Kreuzfahrtschiffe machen nicht
einmal einen Landgang, denen reicht der Blick vom Schiff aus auf die Serenissima. Deswegen fahren die
Kapitäne auch so nahe am Markusplatz vorbei. Ein Schaden für uns alle sind die
riesigen Schiffe, die hier in der Lagune jedes Jahr um die fünfhundert Tonnen
Feinstaub in die Luft blasen. Nicht umsonst gibt es hier eine der höchsten
Lungenkrebsraten von ganz Italien. Genauso schlimm ist die schiere Größe der
Schiffe. Können Sie sich vorstellen, was für eine Verdrängung diese Ungetüme
haben? Der starke Wellengang setzt sich in alle Kanäle der Stadt fort und sorgt
dafür, dass das Mauerwerk unserer Häuser immer mehr ausgewaschen wird. Die
Stadt stellt immer wieder Untersuchungen an, wie es unter der Wasseroberfläche
mit den Fundamenten der Häuser aussieht.“
„Bestimmt
nicht so gut“, warf Chiara ein.
„Das ist
anzunehmen. Genau wissen wir es aber nicht, weil die Stadt die
Untersuchungsergebnisse immer unter Verschluss hält.“
„Was?“,
rief Max erstaunt. „Dann bringen doch die Untersuchungen gar nichts, wenn man
das Ergebnis nicht kennt und keine Konsequenzen daraus ziehen kann.“
„Eben.
Wissen Sie, wenn nur hin und wieder ein Kreuzfahrtschiff unseren Hafen anlaufen
würde, dann wäre das noch verkraftbar, aber bei uns kommen mittlerweile mehr
Kreuzfahrtschiffe an als in New York.“
„Unvorstellbar.
Und die Stadt unternimmt nichts dagegen?“, fragte Chiara.
„Nein, im
Gegenteil. Es wird schon seit einiger Zeit gemunkelt, dass diese Wahnsinnigen
jetzt sogar den Hafen noch aufrüsten wollen, damit dann Schiffe bis zu einer
Länge von dreihundertfünfzig Metern festmachen können. Für mich sind die
sowieso alle korrupt.“
„Oh, oh,
mit so einer Aussage wäre ich vorsichtig“, mahnte sie Chiara mit leicht
erhobenem Zeigefinger. „Noch dazu, wenn ein Polizist dabei ist.“
„Sie sind
bei der Polizei?“, fragte Alessia erschrocken.
„Ja, ich
bin in Bayern bei der Kripo“, antwortete ihr Max.
Chiara
stellte sich und Max vor, erzählte, dass sie in Rom geboren war und dass der
Anlass ihrer Venedig-Reise ihre Silberhochzeit war.
„Dann darf
ich Ihnen noch herzlich gratulieren. Bis dahin ist es bei mir noch weit. Mein
Freund Gianni und ich, wir wollen erst heiraten, wenn wir mit dem Studium
fertig sind.“
„Was
studieren Sie denn?“, wollte Chiara wissen.
„Gianni studiert
Philosophie und ich Wirtschaft. Mit dem Job hier im Gran Paradiso finanziere ich mir mein Studium.“
Max nickte
anerkennend.
„Und neben
Studium und Job haben Sie auch noch Zeit für Salvate Venezia?“
„Die Zeit
nehme ich mir gerne. Auch wenn ich gerade erwähnt habe, dass mich beziehungsweise
uns die Touristen nicht stören, so sehen wir es schon auch als unsere Aufgabe
an, sie darüber zu informieren, wie und warum das ursprüngliche Venedig mehr
und mehr verloren geht. Aber es geht uns nicht nur um das Wohl unserer Stadt im
Allgemeinen, sondern auch um viele Einzelschicksale. Im Moment beschäftigen uns
zum Beispiel die Probleme eines Bäckers in Dorsoduro,
der aus seinem Geschäft mit angrenzender Backstube vertrieben werden soll. Der
arme Mann ist schon Mitte fünfzig. Glauben Sie, dass der woanders einen Job
bekommt oder ein vergleichbares und auch bezahlbares Geschäft? Außerdem, wenn
einer der letzten Bäcker von Dorsoduro
auch noch aufgibt, haben die Venezianer dort schon fast keine Möglichkeit mehr,
frisches Brot zu kaufen. Zudem würde er natürlich auch seine Wohnung im selben
Haus nie freiwillig aufgeben, im vierten Stock, mit zwei Dachterrassen, von
denen man einen herrlichen Ausblick hat.“
Obwohl
Chiara ahnte, warum der Bäcker aus seinem Geschäft und seiner Wohnung vertrieben
werden sollte, fragte sie nach.
„Warum soll
er die Bäckerei aufgeben?“
„Das Haus
soll verkauft werden. Alle anderen Mieter, die über der Bäckerei gewohnt haben,
sind schon ausgezogen. Signor Altino,
der Bäcker, hat allerdings einen langfristigen Mietvertrag, der erst vor zwei
Jahren um zehn Jahre verlängert worden ist.“
„Was
unternehmen Sie in so einem Fall?“, hakte Chiara nach.
„Zuerst
einmal wird sich unsere ganze Gruppe heute Abend zusammensetzen und
beratschlagen, wie wir ihm am besten helfen können. Einige Bekannte von ihm wollen
eventuell auch dabei sein.“
Alessia war
der neugierige Blick von Chiara nicht entgangen, deshalb ergänzte sie:
„Gäste sind
uns natürlich auch immer herzlich willkommen. Ich würde mich freuen, wenn Sie
auch kommen würden. Wir treffen uns um halb neun drüben in Dorsoduro.“
Chiara sah
Max fragend an. Der schüttelte sofort mit dem Kopf und antwortete ihr auf
Deutsch.
„Heute
Abend um neun ist Fußball. Du würdest aber schon gern hingehen, oder?“
Chiara
nickte.
„Wäre es ein
Problem für dich, allein hinzugehen? Ich will mir unser WM-Spiel eigentlich
nicht entgehen lassen.“
„Okay, ich
habe ja noch Zeit, es mir zu überlegen.“
Chiara
wandte sich wieder Alessia zu und stellte ihr in Aussicht, dass sie eventuell
dazukommen würde. Daraufhin erklärte ihr das Zimmermädchen, wo sie in Dorsoduro die Bäckerei finden würde. „Direkt links
von dem Laden geht’s ins Treppenhaus. Wir werden im vierten Stock in der
Wohnung der Altinos sein, das ist die einzige Wohnung im ganzen Haus, die noch
nicht leer steht.“
„Das finde
ich bestimmt.“
„So, jetzt
muss ich aber weitermachen mit meiner Arbeit. Es war sehr nett, Sie kennen
gelernt zu haben.“
Sie gab Max
die Hand und verabschiedete sich dann auch von Chiara.
„Ich würde
mich wirklich freuen, wenn es bei Ihnen heute Abend klappt.“
Alessia
nahm zwei Putzlappen sowie den Putzkübel, der neben der Badezimmertür stand,
und verließ das Zimmer.
Kurz
darauf, als sie mit dem Fahrstuhl nach unten fuhren, wollte Max von Chiara
wissen, warum sie nicht gleich zugesagt hatte.
„Ich habe
dir doch angesehen, dass du da unbedingt dabei sein willst.“
„Interessieren
würde mich das Thema schon, vor allem könnte ich unter Umständen als Touristin
und ehemalige Reiseführerin auch Dinge mit beitragen, an die die jungen Leute
vielleicht gar nicht denken würden. Ich habe nur nicht sofort zugesagt, weil
ich dich bei unserer zweiten Hochzeitsreise eigentlich nicht alleine lassen
will.“
Max legte
ihren Arm um sie.
„Darüber
brauchst du dir überhaupt keine Gedanken machen, mein Schatz. Auch wenn ich den
Abend natürlich viel lieber mit dir zusammen verbringen würde, macht es mir
wirklich nichts aus, wenn du zu der Versammlung gehst, während ich Fußball
schaue.“
Eine kleine
spitze Bemerkung konnte er sich dann aber wie meistens doch nicht verkneifen.
„Vergiss
aber nicht, dass wir schon am Dienstag an den Lido umziehen und in einer Woche wieder nach Hause fahren werden.
Ich will dich hier nicht als Salvate
Venezia-Aktivistin zurücklassen.“
Chiara
streckte ihm die Zunge raus.
„Bist du
jetzt etwa eifersüchtig? Ich will doch die jungen Leute einfach nur ein
bisschen unterstützen, weil ich es gut finde, was sie machen. Eher könnte ich
eifersüchtig werden, ich habe schon bemerkt, dass dir die Alessia ganz gut
gefällt.“
Max war
sich zwar nicht sicher, ob diese letzte Bemerkung nicht doch ernst gemeint gewesen
war, trotzdem wollte er Chiara mit seiner Antwort etwas reizen.
„Was soll
ich sagen? Sie hat genauso eine tolle Figur wie du und hat ebenso schöne dunkle
Haare, aber sie ist halt dreißig Jahre jünger.“
Zum ersten
Mal seit langem war Chiara wirklich sprachlos, musste ein paar Mal schlucken
und zischte ihn dann an.
„Du
gemeiner, alter Lustmolch.“
Im selben
Augenblick hielt der Fahrstuhl im Erdgeschoß an. Ohne Max noch eines Blickes zu
würdigen, marschierte Chiara los, durch die Hotellobby ins Freie hinaus. Max
beeilte sich, ihr hinterher zu kommen, aber erst kurz vor dem Campiello Santa Maria Zobenigo hatte er
sie eingeholt.
„Du hast
das jetzt aber gerade nicht ernst genommen, oder?“
Sie sagte
nichts, sondern warf ihm einen ziemlich bösen Blick zu. Da ging er vor ihr auf
die Knie und nahm ihre Hände in seine.
„Oh du
meine über alles geliebte Chiara, kannst du mir noch einmal verzeihen“, flötete
er.
Jetzt
konnte sich Chiara nicht mehr halten vor Lachen.
„Komm, steh
auf du Depp, die Leute schauen schon.“
Arm in Arm
gingen sie weiter bis zum Markusplatz. Wie erhofft waren um diese Zeit noch
sehr wenige Touristen unterwegs, so dass die Schlange vor dem Campanile sehr kurz war. Es dauerte
gerade einmal fünf Minuten, dann hatten sie schon den Ticketschalter im Erdgeschoss
des Turmes erreicht. Nach dem Bezahlen ging es per Fahrstuhl hinauf auf eine
Höhe von ungefähr sechzig Metern, wo sich die Glocken befinden und von wo aus
man in alle vier Himmelsrichtungen einen wunderbaren Ausblick über die Stadt
und die Lagune genießen kann. Zuerst blickten sie Richtung Südosten. Im Canale di San Marco näherte sich schon
das nächste riesige Kreuzfahrtschiff, um weiter durch den Canale della Giudecca zum Hafen hinüber zu fahren. „Alessia
hat schon Recht, Max. Von hier oben sieht man erst einmal, wie gigantisch groß
diese Schiffe sind, die überragen sogar sämtliche Häuser, nur hier oben ist man
noch ein Stückchen höher.“
Sie sahen
dem Schiff eine Weile zu, blickten aber auch zum Lido di Venezia, nach San
Giorgio Maggiore und der Giudecca
sowie nach Dorsoduro hinüber. Dann
wechselten sie auf die nächste Seite des Turmes, von wo aus sie steil nach
unten auf den Markusplatz schauen konnten. „Schau,
Max, das hohe, an der Seite ockergelbe Gebäude mit dem hellen Dach dort hinten
ist das Teatro La Fenice, das
berühmte Opernhaus von Venedig.“
„Ist das
nicht das Opernhaus, das vor einigen Jahren komplett abgebrannt ist?“
„Ja, leider
ist es schon mehrfach abgebrannt, zuletzt 1996, als es gerade renoviert wurde.
Wie sich im Zuge der Ermittlungen herausgestellt hat, war das Feuer vorsätzlich
von einem Elektroingenieur gelegt worden, der mit seinen Arbeiten in Verzug war
und so die fällige Konventionalstrafe umgehen wollte.
„So ein
Wahnsinniger.“
„Man kann
das La Fenice auch besichtigen, da
stehen auch nie so viele Touristen an wie hier oder bei der Basilica.“
Vom Campanile aus war auch ein weiteres Kreuzfahrtschiff
zu sehen, das den Canale della Giudecca
bereits durchfahren und nicht mehr weit bis zum Hafen hatte, während dort ein
anderes längst vor Anker lag.
„Von hier
oben sind die Kanäle kaum zu sehen“, stellte Max fest, als sie in
nordwestlicher Richtung hinunter sahen. „Auch den Canal Grande kann man eigentlich nur anhand der durchgehenden Lücke
in der Bebauung erahnen.“
„Ich habe
dir doch schon gestern Abend gesagt, dass man von hier oben nicht einmal die Rialto-Brücke sieht. Wenn du deiner Frau
genau zuhören würdest und ihr auch einmal etwas glauben würdest, dann müsstest
du dich jetzt nicht darüber wundern.“
„Heute bist
du aber bissig“, schoss Max sofort lachend zurück.
„Ich bin
eben schon kampfeslustig für heute Abend, wenn wir für den armen Bäcker Altino
einen Schlachtplan entwickeln werden. Der Hauseigentümer dürfte mir nicht über
den Weg laufen, dem würde ich vielleicht was erzählen. Aus eigener Profitgier
einem anderen die Existenz zerstören, das ist wirklich das allerletzte.“
Max hielt
sich wie immer mit einem vorschnellen Urteil über jemanden zurück, den er kaum
oder gar nicht kannte. Weil er über dieses Thema auch nicht weiter diskutieren
wollte, ging er wieder eine Turmseite weiter, zog den Reiseführer aus der
Hosentasche und faltete den Stadtplan auseinander, der auf der letzten Seite
des Reiseführers befestigt war.
„Dort
drüben, die große Kirche mit der Kuppel, das ist die Chiesa di San Francesco della Vigna, die Bäume im Hintergrund
stehen alle auf der Friedhofsinsel San
Michele und dahinter, das ist Murano,
die Insel der Glasbläser.“
„Auf Murano war ich auch noch nicht,
vielleicht könnten wir da morgen oder am Montag noch hinüberfahren.“
„Das können
wir gerne machen.“
Chiara bat
einen anderen Touristen, sie zusammen mit Max zu fotografieren. Einmal stellten
sie sich so hin, dass man die Stadt im Hintergrund erkennen konnte. Zu einem
weiteren Foto drehten sie sich um, so dass sie nun unterhalb der fünf Glocken
des Campanile di San Marco standen.
Danach postierten sie sich am Fahrstuhl, um wieder hinunter zu fahren. Unten
reihten sie sich gleich in die Schlange vor der Markus-Basilica ein, die um diese Zeit noch viel kürzer war als am
vorangegangenen Nachmittag, als sie die Besichtigung der Kirche zurückgestellt
hatten. Während der Wartezeit blätterte Max wieder im Reiseführer und als sie
dann das Gotteshaus betreten konnten, ließen sie sich sehr viel Zeit, um sich
den von Mosaiken übersäten Boden und die an den oberen Teilen der Wände sowie
der Decke hauptsächlich in Goldtönen gehaltenen Mosaike anzusehen. Am meisten
beeindruckt waren Chiara und Max aber von der Pala d’oro, dem fast dreieinhalb auf eineinhalb Meter großen,
goldenen Altarbild, in das auch Silber, Edelsteine und Emailarbeiten eingefügt
sind. Der Besuch der Basilica an sich
war kostenlos, damit man aber für die Besichtigung der Pala d’oro Eintritt verlangen konnte, war das Altarbild um
einhundertachtzig Grad gedreht, so dass man es nur ansehen konnte, wenn man
hinter dem Hauptaltar stand. Dieser Bereich konnte relativ einfach abgesperrt
und mit Zugangskontrollen versehen werden. Das Fotografieren war wie in der
gesamten Basilica natürlich nicht
erlaubt.
Wiederum
wurden sie von der Sonne regelrecht geblendet, als sie gegen Mittag die Basilica wieder verließen.
„Ob du
schon Hunger hast, brauche ich sicher nicht zu fragen“, lachte Chiara.
„Willst du
auch schon etwas essen?“, antwortete Max mit einer Gegenfrage.
Sie
besprachen, dass es sinnvoller wäre, sich an diesem Tag ein etwas
umfangreicheres Mittagessen zu gönnen und abends vielleicht nur eine Pizza zu essen, damit Chiara pünktlich
in Dorsoduro und Max rechtzeitig um
neun vor dem Fernseher sein würde. Sie spazierten in Richtung Rialto und setzten sich dann zum
Mittagessen in ein Ristorante direkt
am Canal Grande, von wo aus sie die
berühmteste der Brücken Venedigs im Blick hatten. Nach einem vorzüglichen
Drei-Gänge-Menü, bei dem Chiara als Hauptgericht ein Risotto con i finocchi, ein Risotto
mit frischem Fenchel und Max gefüllte Fischfilet-Röllchen mit Polenta, die sich Rotolo di pesce con la polenta nannten, gewählt hatten, blieben sie
noch eine Weile sitzen und beobachteten die Touristen, die rund um die Brücke
unterwegs waren. Chiara machte den Vorschlag, den Gutschein für die
Gondelfahrt, den ihnen Martina und Elena geschenkt hatten, an diesem Nachmittag
einzulösen.
„Gute
Idee“, stimmte ihr Max zu und gab dem Cameriere
einen Wink, damit er die Rechnung fürs Mittagessen bringen würde.
Zwischen
dem Ristorante und der Rialto-Brücke war eine Anlegestelle für
die Gondeln. Der Gondoliere half
ihnen beim Einsteigen in das auf dem Wasser schaukelnde schmale Boot. Als Max
und Chiara sicher saßen, stieß sich der Gondoliere
mit dem Ruder vom Ufer ab und lenkte die Gondel zuerst unter der Rialto-Brücke hindurch und folgte dem Canal Grande bis hin zum Rialto-Markt. Hinter dem Markt bog er
nach links in einen kleineren Kanal ab, musste erst einigen anderen Gondeln
ausweichen und hatte dann freie Fahrt auf dem schmalen Kanal, der links und
rechts direkt an die Häuser grenzte.
„O sole mio“, trällerte der Gondoliere und sein Gesang hallte von
den hohen Hauswänden wider. Chiara lehnte
sich an Max.
„Es war
wirklich ein schöner Einfall von unseren Mädchen, uns diese Fahrt zu schenken.“
Max nickte.
„Ich weiß
nicht, ob ich sonst auf die Idee gekommen wäre, mich in so eine schaukelnde
Nussschale zu setzen“, lachte er.
Nachdem der
Gondoliere dreimal abgebogen war und
bei einer Brücke den Kopf hatte einziehen müssen, um überhaupt darunter
hindurch fahren zu können, erreichten sie wieder den Canal Grande. In dem Durcheinander von Lastkähnen, privaten Booten,
Vaporetti und anderen Gondeln musste
der Gondoliere Schwerstarbeit
verrichten, um mit keinem anderen Boot zusammen zu stoßen und um vorwärts zu
kommen. Immer wieder konnte er Max und Chiara kurze Infos zu den Palazzi entlang des Canal Grande geben oder etwas über deren aktuellen oder ehemaligen
Eigentümer erzählen. Als sie unter dem Ponte
dell’Accademia durchfuhren, fragte sie der Gondoliere, ob sie direkt an der Piazza San Marco aussteigen wollten. Max und Chiara beratschlagten
sich kurz und baten ihn dann, sie direkt beim Gran Paradiso abzusetzen. Geschickt lenkte der Gondoliere dann seine schwarze Gondel an die Anlegestelle des
Hotels. Auf der direkt daneben liegenden Hotelterrasse saßen einige Gäste beim
Nachmittagskaffee. Max und Chiara setzten sich dazu und während sie sich einen Cappuccino bestellte, wollte er lieber
einen Eisbecher. Im Schatten der großen Sonnenschirme war es nicht nur angenehm
zu sitzen, man hatte auch stets im Blick, was sich auf dem Canal Grande alles tat. Fast pausenlos fuhren kleinere und größere
Boote vorbei und auf der anderen Seite des Kanals konnte man verfolgen, wie
ständig Touristen auf dem Weg zur Basilica
Santa Maria della Salute waren.
„Was hältst
du davon, heute Abend beizeiten nach Dorsoduro
rüber zu gehen, mein Schatz? Dann könnten wir uns dort auch ein bisschen umsehen
und uns eine Pizzeria suchen. Danach
gehe ich hierher zurück zum Fußball und du kannst gleich drüben bleiben zur
Versammlung von Salvate Venezia.“
„Gute Idee.
Bis dahin können wir gerne sitzen bleiben, das ständige Herumlaufen macht ganz
schön müde.“
„Ich habe
nichts dagegen, noch eine Weile hier zu bleiben, unsere Stadtbesichtigung soll
ja nicht in Stress ausarten, schließlich haben wir Urlaub.“
„Brauchst
du auch etwas von oben? Ich will mir mein Buch herunter holen.“
Max stand
sofort auf.
„Bleib
sitzen, ich geh schnell rauf und hole mir auch mein Tablet. Das Buch liegt auf
deinem Nachtkästchen, oder?“
„Ja genau.
Danke, Max.“
Als er
wenig später zurückkam, begann Chiara gleich zu lesen und Max surfte mit dem
Tablet auf den Knien etwas im Internet. Per Mail verschickte er einige
Urlaubsgrüße nach Rosenheim. Danach schaltete er sein Tablet aus, lehnte sich
auf seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Neben dem Geklapper von Geschirr
waren nur die gleichmäßig brummenden Motorgeräusche der Boote zu hören. Es
dauerte nicht lange, dann war er eingeschlummert. Chiara war zu sehr in ihre
Lektüre vertieft gewesen, um mitzubekommen, dass er das Tablet längst weggelegt
hatte. Sie bemerkte es erst, als Max neben ihr zu Schnarchen begann. Sie gab
ihm einen leichten Stoß an die Schulter, sodass der zusammenzuckte und
aufwachte.
„Hey, warum
schlägst du mich?“, sah er sie verschlafen an.
„Ich habe
dich doch noch nie geschlagen, Max“, lachte sie. „Wenn du hier so laut
schnarchst, dass die anderen Gäste herschauen, dann muss ich dich doch ein
bisschen wachrütteln.“
Max brummte
etwas Unverständliches und schloss die Augen wieder. Diesmal konnte er aber
nicht noch einmal einschlafen.
Gegen sechs
Uhr gingen sie von der Hotelterrasse in ihr Zimmer hinauf, machten sich frisch
und zogen sich für den Abend um. Bevor sie aufbrachen, wollte Chiara unbedingt
noch zu Hause anrufen.
„Elena und
Carlos werden jetzt kaum in der Wohnung sein, in Rosenheim soll laut dem
Wetterbericht im Internet auch so schönes Wetter sein wie hier.“
Chiara ließ
sich dadurch nicht von ihrem Vorhaben abbringen, aber Max hatte natürlich
Recht. Zuhause meldete sich niemand. Sofort probierte es Chiara auch bei Elenas
Handy.
„Ciao Mama, geht’s euch gut?“, meldete
sich Elena schon beim dritten Klingeln. „Wir sind noch am See, hier ist es
heute richtig heiß.“
Chiara
erzählte ihr, was sie an ihren beiden ersten Urlaubstagen schon alles
unternommen hatten und was für den Abend geplant war.
„Carlos
will das Spiel natürlich auch sehen. Wir werden bei Martina wieder grillen und
dann alle zusammen schauen.“
„Dann sag
allen einen lieben Gruß von mir und vom Papa natürlich auch. Ciao Elena.“
Sie legte
auf, gab auch Elenas Grüße an Max weiter und erzählte ihm, wo sich ihre Töchter
mit ihren Freunden fürs WM-Spiel treffen würden. Chiara holte sich anschließend
für den Abend noch ihre Strickjacke aus dem Schrank, dann brachen sie auf. Bis
zum Campiello Santa Maria Zobenigo war
es ihr inzwischen gewohnter Weg, dort bogen sie aber nicht nach rechts in Richtung
Markusplatz, sondern nach links in Richtung Ponte
dell’Accademia ab. Nachdem sie zwei Brücken, den Campo San Maurizio und eine dritte Brücke überquert hatten,
erreichten sie den großen Campo Santo
Stefano, einen der größten Plätze der Lagunenstadt, auf dem sie nach links abbiegen
und nur dem Strom der Touristen folgen mussten, um den Ponte dell’Accademia zu erreichen. Die ursprüngliche
Eisenkonstruktion der Brücke stammte aus der Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts, die aufgrund ihres schlechten Zustandes im Jahr 1932 durch eine
Konstruktion aus Holz ersetzt worden war. Das ursprünglich nur als Provisorium
gedachte Holzbauwerk hält allerdings bis heute stand. Auf den flachen breiten
Holzstufen standen links und rechts viele Touristen, die auf die Boote auf dem Canal Grande hinunter blickten und in
Richtung Basilica Santa Maria della
Salute fotografierten. Neben dem Brückenaufgang am anderen Ufer stand ein
großer Kiosk, bei dem neben Bildpostkarten, T-Shirts und Stadtplänen allerlei
Touristen-Krimskrams verkauft wurde. Überquert man die Brücke in Richtung Dorsoduro, steuert man direkt auf das
Kunstmuseum Gallerie dell’Accademia
zu. Max und Chiara gingen links an der Galleria
vorbei und bogen dann wie die meisten Touristen nach links in die Calle Nuova Sant’Agnese ab. In dieser
meist relativ schmalen Gasse waren links und rechts viele kleinere Läden und
Bars. Chiara blieb immer wieder stehen, um sich die Auslagen anzusehen. Hinter
einer Trattoria öffnete sich die Calle zu einem kleinen Campo. Geradeaus führte eine kleine
Brücke über den Rio de San Vio, nach
rechts ging der Campo in den
gepflasterten Uferweg Fondameta Venier
Sebastiano über.
„Schau,
dort drüben ist die Bäckerei Altino“, rief Chiara plötzlich laut.
Tatsächlich
war beim zweiten Haus am gegenüber liegenden Ufer des Rio de San Vio über dem Laden im Erdgeschoss ein großes weißes
Schild mit der roten Aufschrift „Panificio
Altino“ angebracht. Über der Bäckerei waren vier Stockwerke, an der Fassade
in Richtung Rio gab es auf jeder
Etage drei Balkone, nur unterm Dach, bei der von Alessia beschriebenen Wohnung
des Bäckers befand sich nur in der Mitte des Hauses ein Balkon, links und
rechts davon waren die zwei Dachterrassen.
„In so
einem Haus zu leben würde mir auch gefallen, Max, mit diesen schnuckeligen
Balkonen überall, und oben die großen Dachterrassen.“
„Wenn man
das ganze Haus sanieren und komplett verkaufen kann, wird man sicher einen
Spitzenpreis erzielen. Die Lage direkt am Rio
ist ideal und die Balkone sind auch schön in Richtung Abendsonne ausgerichtet.“
Das Ufer
vorm Haus war mit einer hohen Mauer befestigt, die genau auf Höhe der Bäckerei
unterbrochen war. Dort führten einige Stufen bis zum Wasser hinunter, wo ein
Boot festgebunden war. Rechts neben Altinos Bäckerei war ein kleines Hotel, vor
dem ebenfalls einige Treppenstufen zu einer Bootsanlegestelle hinunterführten.
„Jetzt,
nachdem ich das Haus schon einmal gesehen habe, bin ich noch mehr auf hernach
gespannt, wenn wir uns dort oben treffen.“
„Zuerst
müssen wir aber noch etwas essen“, entgegnete ihr Max mit einem Augenzwinkern.
„Du brauchst doch Kraft, damit du bis ganz nach oben die Treppen hinaufsteigen
kannst.“
„Deine
Ausreden, was das Essen angeht, waren auch schon mal einfallsreicher, Max. Dir
geht’s doch nur um deinen dicken Bauch.“
Weil Max
wusste, dass er bei dieser Diskussion sowieso den Kürzeren ziehen würde, ging
er auf Chiaras Konter nicht ein.
„Willst du
in die Trattoria gehen, bei der wir
gerade vorbeigekommen sind oder sollen wir noch ein Stück weitergehen?“
Sie sah auf
die Uhr.
„Ich denke,
wir haben noch genügend Zeit, noch bisschen weiter zu gehen. Vielleicht kommen
wir noch an einer Pizzeria vorbei.“
Sie
überquerten den Rio de San Vio, der
Weg setzte sich in die Calle della Chiesa
fort, die teilweise noch schmaler war als die Calle Sant’Agnese, in der sich aber ähnlich viele kleine Läden befanden.
In einem Eckhaus entdeckten sie dann eine Pizzeria,
die auch einige Tische im Freien hatte. Nach einem kurzen Blick auf die
ausgehängte Speisekarte waren sie sich einig, dass sie dort essen wollten.
„Vorher
könnten wir aber noch zur Basilica Santa
Maria della Salute gehen“, schlug Chiara vor und Max war einverstanden.
Den Weg zur
Basilica mussten sie gar nicht
suchen, es reichte aus, geradeaus weiter zu gehen und sich an die vielen
Touristen anzuhängen, die alle zu dem fast ganz am östlichsten Ende von Dorsoduro gelegenen Gotteshaus unterwegs
waren. Vor der Basilica setzten sie
sich auf die flachen Stufen und Max las Chiara aus seinem Reiseführer das
Wichtigste zu dem Kirchenbau vor.
„Die Basilica wurde nach einem Pest-Gelübde
des Dogen erbaut, der 1630, als die Pest ungefähr ein Drittel der
venezianischen Bevölkerung dahin gerafft hatte, den Bau versprochen hatte. Der
Innenraum ist auf den ersten Blick eher nüchtern gehalten, hervorzuheben sind
der kostbare Marmorfußboden und die aufwändig gestalteten Altäre in den
Kapellen des Rundbaus. Besonders eindrucksvoll ist der Hochaltar mit der großen
Madonna, zu deren Füßen links eine
allegorische Darstellung der Venezia
kniet, während auf der rechten Seite eine Engel die Pest in der Gestalt einer
alten, hässlichen Frau vertreibt. Unterhalb der Madonna bildet eine byzantinische Ikone mit einem Muttergottesbild
den Mittelpunkt des Hochaltares.“
Nach dieser
Einführung gingen Max und Chiara in die Basilica
hinein und ließen sich Zeit, die prachtvollen Altäre zu bewundern. Beim
Hinausgehen erzählte Max, dass jedes Jahr am 21. November mit Hilfe von
Schiffen eine Brücke über den Canal
Grande errichtet werde und dass dann über diese Brücke eine Prozession von
der Chiesa Santa Maria del Giglio
hinüber zur Basilica führte, um so der
Muttergottes für die Errettung von der Pest zu danken.
Auf dem
gleichen Weg, auf dem sie gekommen waren, gingen sie zu der Pizzeria zurück, die sie sich zuvor
ausgesucht hatten, und nahmen im Freien Platz.
„Inzwischen
habe ich schon einen ziemlichen Hunger.“
„Ich freue
mich jetzt auch richtig auf die Pizza,
Max.“
Chiara
bestellte sich eine Pizza Tonno mit
Thunfisch, Max blieb wie immer bei seiner Pizza
mit Salami. Da es für das Abendessen noch relativ früh war, saßen neben ihnen
nur wenige Gäste in der Pizzeria,
weshalb es auch nur zehn Minuten dauerte, bis sie ihre herrlich duftende Pizza serviert bekamen. Wie in Italien
üblich tranken sie zur Pizza Bier.
Nach und
nach füllte sich die Pizzeria, die
meisten Gäste waren offensichtlich auch Touristen, die sich in einem
deutsch-englisch-italienischen Stimmengewirr unterhielten. Max und Chiara
blieben bis kurz nach acht sitzen. Erst als sie aufstanden, sahen sie, dass es
nicht nur wegen der langsam untergehenden Sonne immer finsterer wurde, sondern
dass am Himmel immer mehr dunkle Wolken aufzogen.
„Das schaut
ziemlich bedrohlich aus, Max.“
„Ich kann
das schwer einschätzen, wie schnell oder langsam hier ein Gewitter aufzieht.
Bis ich im Hotel bin, wird es hoffentlich noch aushalten.“
Sie
schlenderten in Richtung Rio de San Vio
zurück. Als sie die Brücke über den kleinen Kanal erreichten, kamen ihnen
Alessia und Gianni entgegen.
„Haben Sie
sich doch entschieden, auch mitzukommen, Signor
‚artinger?“, fragte ihn Alessia überrascht und verschluckte bei seinem Namen
das im Italienischen stimmlose ‚H‘.
„Nein,
nein, ich werde mir schon das WM-Spiel meiner deutschen Nationalmannschaft
anschauen. Wir waren hier in der Nähe gerade beim Pizza-Essen, ich wollte mich gleich auf den Rückweg zum Hotel
machen.“
„Wir haben
vorhin schon die Bäckerei von Signor
Altino entdeckt“, ergänzte Chiara. „Ich hatte vor, hier auf der Brücke oder
direkt vor der Bäckerei auf Sie zu warten.“
Gianni, der
bis dahin nur stumm dabeigestanden war, stellte sich vor und gab Chiara und Max
die Hand.
„Gesehen
haben wir uns ja gestern schon bei den Giardini
Pubblici, schön dass Sie sich für die Aktivitäten unserer Gruppe
interessieren.“
Max wollte
sich schnell ausklinken, deshalb fragte er, wie lange das Treffen der Gruppe
ungefähr dauern würde.
„Es kommt
darauf an, auf welche konkreten Maßnahmen wir uns einigen können und was wir
davon heute schon vorbereiten können“, erwiderte Alessia. „Rechnen Sie mal mit
mindestens zwei Stunden.“
„Gut, das
Spiel ist gegen dreiviertel elf aus, dann mache ich noch einen Spaziergang und
hole dich wieder hier ab, mein Schatz. Dann brauchst du nicht mitten in der
Nacht alleine nach Hause gehen. Außerdem kann ich dir dann auch einen Schirm
mitbringen.“
„Danke,
Max.“
„Ich glaube
nicht, dass in zwei Stunden noch ein Schirm notwendig sein wird. Die Gewitter
bei uns verziehen sich meistens so schnell, wie sie gekommen sind“, erklärte
ihnen Gianni.
Chiara umarmte
Max zum Abschied und gab ihm einen Kuss.
„Viel Spaß
und viel Erfolg beim Fußball.“
„Danke,
Schatz. Und euch auch einen erfolgreichen Abend.“
Er gab
Alessia und Gianni die Hand, drehte sich um und marschierte in die Calle Nuova Sant’Agnese hinein, während
Chiara mit ihren beiden Begleitern in Richtung Bäckerei Altino ging.
Als Max
hinter dem Ponte dell’Accademia den Campo Santo Stefano erreicht hatte,
bekam er die ersten Regentropfen ab. Er beschleunigte seine Schritte, der
restliche Weg bis zum Gran Paradiso
war aber zu weit, als dass er es bis dorthin hätte schaffen können, bevor der
Regen richtig loslegte. Ziemlich nass kam er ungefähr eine Viertelstunde vor
dem Anpfiff beim Hotel an. Er fuhr ins Zimmer hinauf, um sich noch etwas
abzutrocknen sowie sich ein trockenes Hemd und eine andere Hose anzuziehen. Inzwischen
ergoss sich draußen ein Wolkenbruch und grelle Blitze erhellten den
Abendhimmel. Als er wieder nach unten kam, waren in der Hotellobby schon mehr
als die Hälfte der Sitzplätze vor dem großen Fernseher besetzt. Kaum hatte er
sich hingesetzt, durfte er schon wieder zur Nationalhymne aufstehen. Die Lobby
war fest in deutscher Hand, bestimmt drei Viertel der Fußballfans sprachen
deutsch, dazu gesellten sich wieder einige Hotelangestellte und Gäste anderer
Nationalitäten. Während der ersten Halbzeit übertönte einige Male das heftige
Donnergrollen das laute Stimmengewirr. Wie immer bei einem spannenden Spiel
rutschte Max nervös auf seinem Stuhl hin und her, stöhnte bei vergebenen
Torchancen laut auf und schimpfte über vermeintliche Fehlentscheidungen des
Schiedsrichters. Bis zur Anfangsphase der zweiten Halbzeit musste er warten,
dann fiel in der einundfünfzigsten Minute endlich das 1:0 für Deutschland. Die
Freude darüber währte aber nicht lange, denn nur drei Minuten später glich
Ghana aus und ging nach weiteren zehn Minuten sogar in Führung. Max war geschockt,
denn er war natürlich von einem deutschen Sieg ausgegangen. Zum Glück hielt die
Führung der Ghanaer auch nur acht Minuten, dann fiel der Ausgleich für
Deutschland. Ein Hotelgast aus Heidelberg, der neben Max saß, fieberte genauso
mit wie er.
„Wir haben
noch knapp zwanzig Minuten Zeit, vielleicht reicht es doch noch zum
Siegtreffer“, hoffte Max.
Sein
Sitznachbar war eher der Meinung, dass man nun nicht mehr unbedingt auf Sieg
spielen, sondern lieber das Unentschieden sichern sollte. Max wollte darauf noch
einmal etwas erwidern, kam aber nicht mehr dazu, weil sein Handy klingelte. Er
war erstaunt über den Anruf von Chiara, denn sie wusste doch, dass das Spiel
noch lief.
„Hallo,
mein Schatz, seid ihr schon fertig?“
„Nein, wir
mussten das Treffen leider abbrechen. Ich bin auch nicht mehr in Dorsoduro.“
„Nicht? Wo
bist du denn dann?“
„Wir sitzen
alle im Comando Provinciale der Carabinieri am Campo San Zaccaria.“
Max sprang
auf.
„Wie bitte?
Was ist denn passiert?“
„Der
Vermieter von Altino ist direkt vor der Bäckerei tot aufgefunden worden.“